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08. Mai 2015 Lesezeit: ~12 Minuten

Das 24 Hour Project in München

2012, als Instagram noch das Netzwerk der Smartphone-Enthusiasten war, kamen zwei Amerikaner auf die Idee, ein Fotoprojekt der besonderen Art aus der Taufe zu heben: Samuel Smotherman und Renzo Grande dachten, dass es spannend sein könnte, eine Stadt über einen Zeitraum von 24 Stunden nonstop zu dokumentieren.

Dabei sollte der Fotograf jede Stunde ein Bild auf Instagram hochladen. Das Geschehen in einer Stadt über so einen Zeitraum kontinuierlich aus der Perspektive eines Fotografen zu sehen, ist an sich schon interessant. Smotherman und Grande aktivierten jedoch zusätzlich noch eine Reihe weiterer Fotografen, die sie von Instagram her kannten und die über die ganze Welt verteilt waren.

Und so startete das 24 Hour Project mit ein paar Dutzend Fotografen aus aller Welt, beginnend in Australien und endend an der amerikanischen Westküste. Schon in der ersten Auflage, als die Bilder aus all diesen Orten auf Instagram erschienen, faszinierte mich die Vielfalt der Themen, der fotografischen Ausdrucksmittel, die Parallelen und die Unterschiede, die zutage treten, wenn Fotografen über den Globus verteilt ihre Sichtweise auf das Menschsein dokumentieren. Über einen Hashtag konnte man schnell auf alle Bilder zugreifen, die im Rahmen des Projekts gepostet wurden, auch von Fotografen, denen man selbst noch nicht folgte.

2013 waren es dann schon ca. 60 Fotografen, die teilnahmen und in München war ich auch ab Mitternacht unterwegs und fotografierte meine Stadt mit dem Smartphone. Die Herausforderungen, denen ich dabei begegnete, waren andere als gedacht. Natürlich war die Akkulaufzeit ein großes Thema, vor allem, weil ich mit Hipstamatic fotografierte, was besonders viel Energie verbraucht.

Aber die Kälte, der ich gerade nachts ausgesetzt war, zu Frühlingsbeginn, zwang mich doch öfter als geplant, in einem Café oder einem Schnellrestaurant Zuflucht zu suchen. Wenn man um Mitternacht beginnt und vorher nicht wirklich schläft, ist auch die Müdigkeit ein Thema. Sie beeinflusst sowohl die Konzentration als auch den Blick für interessante Motive. Schlussendlich habe ich damals nach knapp 20 Stunden abgebrochen. 2014 beobachtete ich das Geschehen dann nur, für 2015 fühlte ich mich jedoch wieder gerüstet.

1:25 Party People

Tilman Haerdle, 1:25 – Party People

Daniel Tschitsch, 1:35 Young Rebels Pt. 1

Daniel Tschitsch, 1:35 – Young Rebels Pt. 1

Da die Organisatoren dieses Jahr schon früh auf vielen Social-Media-Kanälen auf das Projekt aufmerksam machten, stieg die Anzahl der Teilnehmer schnell von 800 über 1.500 bis hin zu etwas mehr als 2.000 am Veranstaltungstag. Mehr als 600 Städte in über 100 Ländern wurden fotografisch dokumentiert.

In manchen Städten fanden sich Dutzende Fotografen, die teils in großen Gruppen durch die Stadt zogen, in München hatte sich außer mir nur noch Daniel Tschitsch gemeldet, den ich von Twitter und Instagram her schon kannte, aber noch nie persönlich getroffen hatte. Einige Tage vor der Veranstaltung kontaktierte ich ihn und wir einigten uns darauf, uns kurz nach Mitternacht zu treffen und gegebenenfalls ein paar Stunden gemeinsam durch die Nacht zu streifen.

4:28 Nightworker

Daniel Tschitsch, 4:28 – Nightworker

Tilman Haerdle, 6:49 Fanny and Nicki eat a Leberkassemmel

Tilman Haerdle, 6:49 – Fanny and Nicki eat a Leberkassemmel

Um die 24 Stunden nicht komplett ziellos durch die Stadt zu laufen, hatten wir beide unabhängig voneinander einige Orte notiert, die wir aufsuchen wollten. Wie sich herausstellte, gab es schon da mehrere Gemeinsamkeiten und so kamen wir schnell stillschweigend zu der Übereinkunft, das Projekt auch zusammen zuende zu bringen.

Als wir uns am 21. März dann kurz vor 1 Uhr nachts trafen, hatten wir beide unser erstes Bild schon im Kasten. Ich hatte einige Tage vorher ein Fitnessstudio in der Nähe gesehen, das 24 Stunden geöffnet hat und so war mein erstes Bild um die Idee aufgebaut, Menschen beim Training mitten in der Nacht zu zeigen. Doch nun waren wir in der Innenstadt und zu der Uhrzeit begegnet man hier in erster Linie den Nachtschwärmern, die entweder auf dem Weg nach Hause oder zu einer anderen Partylocation sind.

Das zweite Bild nahmen wir am gleichen Ort auf, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Ursprünglich hatte ich vor, in erster Linie Portraits zu machen und so wurde auch das zweite Bild ein Portrait eines Menschen, der sichtlich in Feierlaune war. Schon in der kurzen Zeit zeigte sich, dass man zu zweit mutiger ist, näher an Menschen herangeht und die Hemmschwelle, jemanden nach einem Bild zu fragen, stark sinkt.

Wir zogen weiter und während die Nacht vor 2 Jahren schier endlos schien, war es dieses Mal in kürzester Zeit 6 Uhr, dann 8 Uhr. Richtige Probleme, pro Stunde ein interessantes Motiv zu finden, hatten wir nicht und nach einem Zwischenstopp am Hauptbahnhof gegen 4 Uhr konnten wir dann den frühen Morgen auf dem Viktualienmarkt genießen.

Tilman Haerdle, 9:44 We are unrelated planets in an empty universe

Tilman Haerdle, 9:44 We are unrelated planets in an empty universe

12:41 Petzval Boule

Daniel Tschitsch, 12:41 Petzval Boule

Von 8 bis 14 Uhr konnten wir uns unsere Motive und Stationen aussuchen, blauer Himmel und Frühlingssonne sorgten für kontrastreiches Licht und der Tag wäre nachgerade ereignisarm gewesen, wenn wir nicht zwischenzeitlich in arge Nöte mit den Akkus unserer Kameras gekommen wären. Da wir beide mit normalen Kameras fotografierten (Daniel mit einer Canon 5D MkIII und ich mit der Fuji X100S), nutzten wir WiFi-SD-Karten, um die Bilder zum Posten aufs Handy zu bekommen.

Gerade die X100S saugte den Strom in atemberaubender Geschwindigkeit aus den Akkus und so war gegen 11 Uhr dringend geboten, die ersten Akkus wieder nachzuladen. Genau das war für den Rest des Tages dann ein Faktor, der unsere Routenwahl beeinflussen sollte: Wo konnte man nochmal Pause machen und gleichzeitig Akkus laden?

Dazu kam, dass mein Smartphone-Ladekabel zwischendurch am Stecker zerbrach und ich ein neues kaufen musste, was die Routenplanung ebenfalls durcheinander brachte. An dieser Stelle bereute ich, nicht schon mitten in der Nacht bei jeder Gelegenheit nach Steckdosen Ausschau gehalten zu haben.

11:35 Paying tribute to Alex Webb

Tilman Haerdle, 11:35 Paying tribute to Alex Webb

15:49 Couple

Daniel Tschitsch, 15:49 Couple

Am späteren Nachmittag trübte das Wetter ein. Nachdem wir seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen hatten, suchten wir uns einen Platz zum Essen und Akkus laden und 45 Minuten später war es nicht nur schon relativ dunkel geworden, auch kalter Regen drückte auf die Stimmung. Wir entschieden uns, wieder Richtung Stadtmitte zu fahren. Dort waren mehr als genug Menschen unterwegs, aber die Begeisterung, nach interessanten Situationen und Menschen Ausschau zu halten, war spürbar gesunken.

Die Vorstellung, jetzt noch einmal in die Nacht hinein unterwegs zu sein, bei immer stärkerem Regen, war im Zusammenspiel mit der einsetzenden Müdigkeit ziemlich abschreckend. Eine Tour durch eine Einkaufspassage war jetzt willkommen, es war trocken und die Umgebung architektonisch ansprechend. Die Motivation kam dennoch nicht zurück.

Die Aussicht, am nächsten Tag arbeiten zu müssen bzw. sich den Rückfall einer langwierigen Erkältung einzufangen, war in der Situation auch nicht aufbauend. Aus der Distanz erscheint das relativ nichtig, aber subjektiv stellt sich das im Moment gravierender dar. Und wenn dann keiner mit entsprechender Energie vorantreibt, bricht der Plan vollends in sich zusammen.

Tatsächlich waren es wirklich banale Gründe, die uns kurz nach 20 Uhr dazu bewegten, das Projekt dranzugeben und nach Hause zu gehen. Drei weitere Stunden hätten an sich gereicht, das letzte Bild kurz nach 23 Uhr wäre ausreichend gewesen.

17:40 Rushing Home

Tilman Haerdle, 17:40 Rushing Home

18:27 Spot

Daniel Tschitsch, 18:27 Spot

Etwa 15.000 Bilder aus den Hashtags des Jahres 2015 ergeben einen Schnitt von knapp 8 Bildern pro Teilnehmer. Mit unseren jeweils 21 Bildern sind wir da deutlich drüber. Und dennoch nagt im Nachhinein die Aufgabe am Ehrgeiz. In diesem Punkt hat dieses Projekt auch Aspekte, die über die rein fotografische Ebene hinausgehen. Es geht eben auch ums Durchhalten. Und das haben eben doch eine ganze Menge Teilnehmer geschafft. Von daher war es mit Sicherheit nicht meine letzte Teilnahme.

Nimmt man so ein anspruchsvolles Projekt auf sich, lernt man immer dazu. Man lernt vor allem auch für den „fotografischen Alltag“, der in der Regel unter einfacheren Rahmenbedingungen stattfindet. Es ist sehr lehrreich, mit einem anderen Fotografen mit anderer Entwicklungsgeschichte unterwegs zu sein.

Es ist eine interessante Erfahrung, wie man, allein oder zu zweit, fremde Menschen anspricht und vielleicht auch von einem Vorhaben überzeugen kann, dem sie anfangs reserviert gegenüberstehen. Das Projekt mit einem oder mehreren Begleitern anzugehen, ist für Menschen, die keine totalen Einzelgänger sind, sicherlich von Vorteil.

Für die nächste Auflage kann ich mir gut vorstellen, wieder mit Daniel und/oder anderen Gleichgesinnten unterwegs zu sein. Mit noch etwas mehr Planung sollte rein aus fotografischer Sicht auch eine noch bessere Ausbeute aussagekräftiger Bilder zu erzielen sein.

Fotografisch muss man sich darüber im Klaren sein, dass durch die Notwendigkeit, ein Bild pro Stunde zu posten, eine Auswahl getroffen wird, die aus der Distanz betrachtet nicht optimal ist. Außerdem sind viele Bilder im Nachhinein längst nicht so gut, wie sie es in der unmittelbaren Beurteilung schienen.

Am ehesten kann man das vielleicht mit Blitzschach vergleichen. Die Qualität der Arbeit kann sich nur an den Rahmenbedingungen messen lassen. Es ist daher abseits eines solchen offiziellen Projekts auch attraktiv, 24 Stunden am Stück zu fotografieren und eine Selektion erst nach diesem Zeitraum zu treffen, auch wenn dann ein starker äußerer Motivationsgrund fehlt und durch Selbstmotivation ersetzt werden muss.

Daniel Tschitsch sagt dazu:

Nach der Nacht im Glockenbachviertel kam die Großmarkthalle, die irgendwie der Übergang zwischen den nächtlichen Partyszene und dem „normalen“ Volk war. Überhaupt der Wechsel der kommenden und gehenden Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten mit dem Verstreichen der Zeit war faszinierend. Es war ja ein wunderschöner Samstag, an dem dann folglich sehr viel los war.

Fotografisch war es durch den „Druck“, jede Stunde ein künstlerisches Straßenfoto zu posten und der wachsenden Müdigkeit eine ganz neue Herausforderung. Ich bin im Nachhinein sehr froh, mit Tilman unterwegs gewesen zu sein. Das gegenseitige Anfeuern und Lernen war Gold wert und ich bin mir relativ sicher, dass ich allein nicht so lange durchgehalten hätte.

20:07 Turning away from the stage

Tilman Haerdle, 20:07 Turning away from the stage

19:00 Rainy Night

Daniel Tschitsch, 19:00 Rainy Night

Es bleibt die Abwägung, ob man so ein Projekt als „Reise ins Unbekannte“ angehen oder mit sorgfältiger Vorbereitung auf ein optimiertes Ergebnis hinarbeiten will. Auch wenn man dann vielleicht eine starke Serie hat, bleibt aus meiner Erfahrung mit Ausdauerprojekten im Sport einiges vom Reiz des Außergewöhnlichen auf der Strecke. Je weniger man improvisieren muss, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines spannenden Zufallstreffers.

Daniel und ich haben unsere gesammelten offiziellen Bilder sowie einige Outtakes zu einem Buch zusammengefasst, das man online betrachten kann. Es ist nicht das erste Mal, dass ich in sich abgeschlossene Projekte in Buchform zusammenfasse. Auf diese Weise bleibt ein Ereignis fassbarer und länger in Erinnerung.

Daniel Tschitsch:

Prinzipiell muss ich diese 21 Stunden als wahnsinnig intensiv beschreiben. Ich habe München trotz meines Berufs als Kameramann noch nie so erlebt. Das Schönste für mich persönlich waren die netten, auch oft längeren Gespräche, die wir mit wildfremden Menschen geführt haben.

Die offizielle Website des 24 Hour Project hält einiges an Informationen zu den Organisatoren und den Teilnehmern bereit. Daneben ist der Instagram-Account des Projekts immer sehenswert. Die in diesem Artikel gezeigten Bilder sind natürlich nur eine Auswahl der offiziell geposteten Bilder. Alle Bilder aus München findet man unter dem Hashtag #24hr15_munich.

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