06. Mai 2015 Lesezeit: ~9 Minuten

Man blickt in menschliche Abgründe

Der Fotograf Oliver Schmieg lebt und arbeitet seit 15 Jahren in Kolumbien. Im Interview erzählt er von seiner bewegendsten Recherche, deutschen Luxusproblemen und der Arbeit mit einem Auftragskiller.

In Kolumbien herrscht seit rund 50 Jahren ein komplizierter bewaffneter Konflikt, in dem mehr als 200.000 Menschen getötet wurden. Erst Mitte April kam es wieder zu Auseinandersetzung zwischen Regierungstruppen und Rebellen. Trotzdem ist das Land in den vergangenen Jahren sicherer geworden und zieht zunehmend mehr Touristen an. Der deutsche Fotograf Oliver Schmieg lebt seit 15 Jahren in Kolumbien. Ich habe ihn im Herbst 2014 besucht und mit ihm gesprochen.

Du hast für eine Reportage einen kolumbianischen Auftragsmörder fotografiert. Wie fühlt man sich, wenn man so jemandem gegenübersitzt?

Ich hatte ziemlich widersprüchliche Gefühle. Gustavo, so heißt er, sagte, er habe nach rund 25 Morden aufgehört zu zählen – da blickt man in menschliche Abgründe. Zum anderen bin ich nah an ihn herangekommen und habe eine liebenswürdige und höfliche Seite an ihm kennengelernt. Das hat mich erstaunt, verwirrt und mir Angst gemacht.

Mann mit Waffe an einer Tür

Mann mit Tattoos sieht Fernsehen

Wie hast Du Kontakt zu Gustavo aufgenommen?

Bekannte von mir haben Beziehungen zum Drogenkartell Oficina de Envigado. Die haben mir den Kontakt hergestellt. Dann bin ich nach Medellin gefahren und habe mit Gustavo darüber geredet, ob er mitmachen würde. Ein paar Tage später hat er angerufen und sein Okay gegeben, aber zu seinen Bedingungen: Er wollte auf keinem der Bilder wirklich erkennbar sein. Und da hält man sich besser auch dran.

Du warst auch mit linken Guerilla-Soldaten und rechten Paramilitärs unterwegs, Du hast in Drogenlabors fotografiert. Was waren die brenzligsten Situationen?

Als ich mit der Drogenpolizei unterwegs war, mussten wir mit dem Hubschrauber in einem Gebiet der Guerilla-Gruppe FARC notlanden. Wir saßen stundenlang fest und sie haben auf uns geschossen. Außerdem habe ich einmal über Kinder in den Reihen der FARC berichtet und wurde danach bedroht. Meine Familie und ich haben das Haus kaum noch verlassen. Aber diejenigen, die mich bedroht hatten, kamen ein Jahr später bei Kämpfen ums Leben. Das macht zwei brenzlige Situationen in 15 Jahren. Das ist nicht so tragisch.

Zwei bewaffnete Menschen gehen über eine schmale Brückebewaffnete Frau an einem Auto.

© Oliver Schmieg

Wie unterscheidet sich Deine Arbeit in Kolumbien sonst von der in Deutschland?

Das Leben hier ist noch viel ursprünglicher und daher gibt es für mich die interessanteren Geschichten. Denn ich fotografiere viele soziale Themen. Ich will nicht sagen, dass das in Deutschland nicht möglich wäre und es da keine soziale Ungleichheit gäbe. Aber nach 15 Jahren Kolumbien gehen meine Ansichten und die von Freunden und Familie in Deutschland immer mehr auseinander. Die Klagen, die Leute in Deutschland haben, sind für mich nicht mehr so leicht zu verstehen.

Luxusprobleme?

Ja, richtig. Ob Du in Deutschland ein gutes Einkommen hast oder nur Hartz IV, das ist eine Sache. Aber in Kolumbien sind die Unterschiede viel größer. Wer in Deutschland zum Beispiel nicht das Geld hat, sein Kind auf eine private Schule zu schicken, kann sich immer noch auf ein gutes öffentliches Schulsystem verlassen. Auch da mag vieles im Argen liegen. Aber hier lernen die Kinder in einer öffentlichen Schule kaum die vier Grundrechenarten. Und während ein Freund in Frankfurt 160 € im Monat für die Privatschule zahlt, kostet mich das hier für meine Tochter umgerechnet mehr als 400 € im Monat.

Ist es auch anders, die Leute in Kolumbien zu fotografieren?

Ja, die Menschen hier sind offener, auch im Vergleich zu Ländern wie Ecuador. Weil Kolumbien aufgrund des Bürgerkrieges ein sehr abgeschottetes Land war und es bis vor ein paar Jahren nur ganz wenige Touristen gab. Nun ist ein Effekt da: „Ui, ein Ausländer, das find ich ja toll, mit dem möchte ich sprechen.“ Die Leute sind sehr neugierig und interessiert. Außerdem wollen sie ihre Freundlichkeit zeigen und beweisen, dass Kolumbien nicht so schlimm ist, wie oft dargestellt.

Und trotzdem ist es kein ungefährliches Land. Vor Kurzem hast Du zum Beispiel in der Stadt Buenaventura an der Pazifikküste recherchiert. Was passiert dort?

Um Buenaventura kämpfen zwei Drogenkartelle: In den letzten Jahren wurde die Stadt von La Empreza kontrolliert und nun versuchen Los Urabenos, an die Macht zu kommen. Darunter leiden Tausende von Menschen und zuerst die Frauen. Denn die Gangs gehen nach dem Prinzip vor: „Ich vergewaltige Deine Frau, um Dir Schaden zuzufügen.“

Marihuana auf einem Tisch.

Polizisten.

Gibt es Hilfe für diese Frauen?

Ja, eine Gruppe von Frauenrechtlerinnen bringt die Opfer von sexueller Gewalt dazu, Anzeige zu erstatten und macht Workshops mit ihnen. Sie begleiten sie bei Behördengängen und zu gerichtsmedizinischen Untersuchungen. Vor Kurzem wurden sie dafür mit dem Nansen-Flüchtlingspreis 2014 der Vereinten Nationen ausgezeichnet.

Kein ungefährliches Engagement, oder?

Nein, im Gegenteil. Das große Problem ist, dass die Opfer mit ihren Peinigern oft Tür an Tür leben. Und auch die Frauenrechtlerinnen wohnen größtenteils in den gleichen Armenvierteln. Daher sind auch sie einer ungeheuren Gefahr ausgesetzt.

Warum ist die Stadt für die Drogengangs so wertvoll?

Buenaventura ist ein extrem wichtiger Ort, um Kokain und Marijuana außer Landes zu schaffen, nach Zentralamerika und in die Vereinigten Staaten. Und wer die Slums kontrolliert, kontrolliert die Schmuggelrouten. Denn diese Armenviertel ragen als Pfahlbauten ins Meer. So können Drogen direkt von den Hütten in Kanus abgelassen und zu größeren Booten transportiert werden.

Pfahlbauten von einem Boot aus.

Bei solchen Reportagen fotografierst Du nicht nur, sondern schreibst und filmst auch. Ist Fotografie für Dich nur ein Mittel zum Zweck, um die Geschichten zu erzählen?

Es wird von Mal zu Mal schwieriger, von Fotografie zu leben. Die Anforderungen ändern sich, es heißt nicht mehr klassisch „Hier haben wir einen Fotografen, hier einen Schreiber.“ Man muss vielseitig sein und es hat einen Vorteil, wenn man über eine Bildsprache verfügt, aber auch mit Worten umgehen kann. Und am besten noch Videos drehen kann und ein bisschen was von Audio versteht. Außerdem ist es nicht einfach, jemanden zu finden, mit dem man ein gutes Team bildet, vor allem in Konfliktgebieten und Stresssituationen.

Manchmal muss man gleichzeitig fotografieren und ein Zitat aufschreiben. Kein Problem?

Parallel ist das schwierig. Und auch, wenn ich Interviews mache und nur am Ende zehn Minuten Fotos, dann sieht man das. Dann sind die Fotos statisch, dann ist keine Bildsprache dahinter, keine Aussage. Deshalb nehme ich mir mehr Zeit für die Geschichten und sage: Heute mache ich nur Interviews und nehme die Kamera gar nicht mit. Und morgen gehe ich los und mache die Fotos. Und die Redaktionen akzeptieren das auch, wenn ich sage, ich bin allein, brauche dafür aber auch zwei Tage mehr.

Welche Geschichte hat Dich in der ganzen Zeit in Kolumbien am meisten bewegt?

Die eines Bauern namens Andrés. Die FARC zwang ihn und seine Familie, Koka anzubauen und in einem Drogenlabor Koka-Paste zu produzieren, aber er wollte immer aussteigen. Irgendwann musste sich die Guerilla dann aus dem Gebiet zurückziehen und er wollte sich von da an voll und ganz der Landwirtschaft widmen. Aber der Staat und die Militärs haben Andrés alle Alternativen kaputt gemacht.

Bauer mit Kokablättern

Kokainherstellung

Wie das?

Wir haben ihm zum Beispiel ein paar kleine Schweine gebracht, damit er eine Zucht starten kann. Nach dem Abwurf chemischer Mittel gegen die Kokafelder sind die Tiere aber gestorben, weil sie vergiftetes Wasser trinken mussten. Auch eine Kochbananen-Plantage wurde durch solch eine Sprühaktion aus der Luft zerstört. Und Soldaten haben ihm Hühner gestohlen. Ich habe sechs Monate recherchiert für diese Geschichte und besuche Andrés bis heute einmal pro Jahr.

Wie geht es ihm heute?

Im Moment ist seine wirtschaftliche Lage nahezu aussichtslos. Seine älteste Tochter musste vor zwei Jahren die Schule vorzeitig abbrechen, denn nach der dritten Klasse hatte die Familie nicht mehr genügend Geld für den Schulbesuch.

Kolumbien ist offenbar ein Land mit großen Problemen, aber auch vielen freundlichen, engagierten und neugierigen Menschen. Wenn jemand aus Deutschland nach Kolumbien reisen möchte, hast Du einen Tipp für sie oder ihn?

Für einen normalen Rucksackreisenden ist Kolumbien meiner Meinung nach nicht mehr gefährlicher als Ecuador oder Peru. Und ich denke, das wahre Kolumbien findet man nicht in den Städten. Die meisten Touristen halten sich in Bogota, Cartagena, Medellin oder Cali auf, aber das wahre Kolumbien findet man auf dem Land, in den Dörfern.

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