Ein Stück Rollrasen liegt auf einem Bett.
25. Februar 2015 Lesezeit: ~9 Minuten

Fotoskulpturen oder Der Stand der Dinge

Zum ersten Mal so richtig begegnet sind mir zufällige Skulpturen letztes Jahr beim Streunen durch die Berge Islands. Zwischendurch haben wir immer wieder gestapelte Steinberge gefunden, die einen einsam in der Landschaft, manche zu Hunderten auf einem Pass. Einige waren stabil, unversehrt und voller Moos, andere fragile Bauten, die beim nächsten Sturm mit Sicherheit umgeweht worden sind. Sie werden also danach nur noch auf dem Foto existieren, das ich von ihnen gemacht habe.

Über diesen Schwebezustand in Skulpturen, vor allem aus einfachsten Materialien, habe ich länger nachgedacht und einiges gelesen. Gerade Arbeiten der Land Art legen es häufig darauf an, nicht von Dauer zu sein. Die Künstler dokumentieren ihre Arbeiten in der Natur lediglich auf Fotos, andere Beweise ihrer Existenz gibt es danach nicht mehr.

Natürlich ist die grundsätzlich konservierende Wirkung von Fotos unbestritten und kein fotografierter Moment wird sich jemals wiederholen, egal ob im Portrait oder in der Landschaft. Aber gerade die Flüchtigkeit von nicht auf Permanenz angelegten Skulpturen interessiert mich besonders.

Spricht man in diesem Zusammenhang von fotografischer Plastik, ergeben sich, etwas theoretisch ausgedrückt, zwei Varianten: „Die Kamera kann in der Welt gefundene Konfigurationen in ihrer skulpturalen Qualität erkennen und als solche ausweisen oder sie kann sich selbst Gebilde als Motive erschaffen, die im fotografischen Bild ihren plastischen Formwert und narrativen Gehalt zur Geltung bringen.“1

Diese Gebilde müssen nun nicht mehr besonderer Natur sein, auch in dem einfachsten Fundstück oder Arrangement kann sich skulpturale Qualität durch das Fotografieren und Konservieren entfalten.

Dinge sind seit Anbeginn der Fotografie Motive, da sie im Gegensatz zu menschlichen Darstellungen den extrem langen Belichtungszeiten der Fotografie im 19. Jahrhundert mit aller Stille und Geduld standhielten und so lange Zeit die einzigen scharfen Fotografien lieferten.

Durch das Bekanntwerden der Lichtbilder begannen erste Bildhauer, ihre Arbeiten im Atelier fotografisch zu dokumentieren, die Surrealisten legten den Akzent auf die inszenierte Magie der Dinge, die Fotografen der Neuen Sachlichkeit stellten die Form der Dinge in den Vordergrund und in der konzeptuellen Fotografie steht hingegen die Idee der Dinge im Zentrum.

Viele bekannte und weniger bekannte Künstler spielen heute mit diesem neuen Fotoskulptur-Begriff. Vor allem in jüngster Zeit hat sich die Fotografie neuen Gebieten zugewandt und dabei eine zeitliche und räumliche Erweiterung erfahren. Gabriel Orozco, Peter Fischli und David Weiss, um ein paar große Namen zu nennen, benutzen die Kamera, um zufällige Begegnungen mit gefundenen Objekten, die sie zu Skulpturen erklären, festzuhalten.

„Unbeabsichtigte Skulpturen“ werden von ihnen entworfen, indem sie wertlose Wegwerfmaterialien verwerten und zu spielerischen und poetischen Situationen arrangieren. Diese sind speziell für die Kamera inszeniert, verharren meist nur den Moment der Aufnahme und gaukeln uns frecherweise später Standbilder vor. 2

Die Instanz des Zufalls ist hierbei besonders wichtig und natürlich der Mut, einfache Dinge als „sehenswert“ zu beurteilen und ihnen fotografische Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Wo fängt Skulptur an, wo hört sie auf? Das fotografierte Objekt erhält „Autorität, es erschließt dem geschulten Blick Aussagen, es hat ästhetische Eigenständigkeit jenseits praktischer, alltagsvertrauter Funktionen – es hat uns ‚etwas zu sagen‘.“ 3

Und dieses Ringen um Anerkennung haben schließlich auch schon andere Ready-Mades durchleben müssen, seit Marcel Duchamp 1917 verweigert wurde, „Fountain“ bei der großen Schau der Society of Independent Artists auszustellen und er damit die längst überfällige Debatte über den Kunstbegriff auslöste.

Ein besonderer Schattenwurf, gestapelte Kartons, ein Balanceakt, der nur noch im Moment des Fotografierens der Schwerkraft standgehalten hat – all diese Objekte existieren kurze Zeit danach nur noch als Fotoskulptur, da das Original vergangen, zusammengebrochen ist oder weggeräumt wurde.

Labil austarierte Skulpturen in perfekter Spannung vermitteln den Eindruck eines lebendigen Schwebezustands und doch sind es oftmals nur einfache Gegenstände des täglichen Lebens in neuen Arrangements.

Eine moderne Sichtweise auf Skulptur und eine fotografische Flexibilität, für was sich das Drücken auf den Auslöser überhaupt lohnt, findet man mit ein bisschen Suche auch in den gängigen Fotoportalen. Zugegeben, für wirklich interessante Fotoskupturen muss man schon etwas suchen, da sich die entsprechenden Fotografen irgendwo zwischen Kunst, Dokumentation bildhauerischer Tätigkeiten und Staßenfotografie tumeln. Aber ich habe gesucht und gefunden: Skulpturen, die dem klassischen Kunstbegriff nicht zuzuordnen sind und dennoch eine unglaublich poetische, künstlerische und skulpturale Qualität besitzen.

Herausgehoben möchte ich Euch hier Natalie Kaplan vorstellen, die auf sehr bemerkenswerte und doch erstaunlich einfache Weise mit Dingen und Fundstücken arbeitet.

Ich mag es, herumzuwandern und mich verschiedener Objekte anzunehmen. Dinge, die ich auf dem Boden oder sonstwo finde, haben etwas, das mich generell anzieht und fordern mich heraus, sie zu erforschen oder mit ihnen zu spielen: Das Material, aus dem sie gemacht sind, ihre Form, ihre Farbe, das Verhalten bei Licht, Interaktionen mit anderen Dingen und all die Möglichkeiten, mit ihnen zu arbeiten, um Neues und Faszinierendes zu erschaffen.

Nachdem ich diese Objekte nun ins Auge gefasst habe, spiele ich mit ihnen, manchmal platziere ich sie nur, manchmal ändere ich ihre Form oder ich füge etwas hinzu, immer mit dem Wunsch, etwas zu erzeugen, das es so in der Realität noch nicht gibt, aber mir immer gefehlt hat. Indem ich das mache, versuche ich vielleicht, eine bestimmte Spannung oder Dramatik hinzuzufügen.4

Oftmals ist ein subtiler und impliziter Humor auch eines der Mittel, die eine Fotoskulptur funktionieren lassen. Die skurrilen oder absurden Gebilde aus Alltagsgegenständen lassen einen schmunzeln, weil sie witzig sind. Weil sie komische Situationen erzeugen, weil sie irgendwie nicht zusammenpassen.

Durch das Foto erhalten die merkwürdigsten Gegenstände, aus dem Zusammenhang gerissen und in die unpassendste Umgebungen neu platziert, Beachtung, auch wenn sie fremd wirken und scheinbar so, als haben sie mit ihrem Besitzer nichts mehr zu tun.

Und doch enthalten gerade gebrauchte Gegenstände immer auch einen Verweis auf den Menschen oder wie Roland Barthes sagen würde: Der Referent bleibt „haften“. Die Gebrauchsspur ist das verbindende Glied zwischen den Dingen als Motiv und seinem Benutzer.

Christina Pack geht sogar soweit zu sagen: „[weil die] Darstellbarkeit des Menschen in Frage gestellt wird, übernehmen die Dinge eine Stellvertreterfunktion, werden über einen Umweg zum indirekten Portrait oder bringen den Zweifel an einem solchen Bild zum Ausdruck. Dinge erscheinen als neutrales Terrain, das einen Verweis auf den Menschen noch ermöglicht.“5

Wie dieser Verweis dann konkret aussieht, ist sehr unterschiedlich, von Humor über Dokumentation bis Kritik. Und doch sagt jedes Ding etwas über den Menschen aus, der es hergestellt, benutzt und wieder weggeworfen hat, dessen müssen wir uns bewusst sein, wenn wir Objekte fotografieren. Denn die kontinuierliche Zunahme an Dingen ist Phänomen und gleichzeitig Problem unserer Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft.

Am Ende geht es natürlich darum, was man beim Betrachten der Fotos dieser Dinge empfindet. Banalitäten? Witzige Konstruktionen? Oder doch irgendwas, das den Mensch in unserer verschwenderischen Wegwerfgesellschaft portraitiert oder karikiert? Es kann alles sein und obwohl ich mich viel mit Skulpturen auseinandersetze, kann ich es auch nicht beantworten.

Was mir aber hilft, meine Sehgewohnheiten zu reflektieren, ist die Fotografie. Sie scheint besonders gut geeignet zu sein, die Dinge von einer anderen Seite aus zu betrachten. Oder wie der Philosoph Vilém Flusser es wundervoll auf den Punkt gebracht hat:

„Das Ungeheuerliche an diesen Dingen oder, um es noch unheimlicher auszudrücken: das nicht ganz Geheure, ist allerdings durch dicke Schichten der Gewöhnlichkeit dieser Dinge und der Gewöhnung an sie verdeckt und tritt meistens nur bei der Anstrengung zur Entfernung dieser Schichten zu Tage.“6

 

1 FotoSkulptur – Die Fotografie der Skulptur 1839 bis heute*, S. 30
2 vgl. FotoSkulptur – Die Fotografie der Skulptur 1839 bis heute, S. 17
3 vgl. FotoSkulptur – Die Fotografie der Skulptur 1839 bis heute, S. 32
4 www.urbanautica.com
5 Christina Pack: Dinge. Alltagsgegenstände in der Fotografie der Gegenwartskunst*, 2008, S. 16
6 Vilem Flusser: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen*, 1993, S. 1

* Das ist ein Affiliate-Link zu Amazon. Wenn Ihr darüber etwas bestellt, erhält kwerfeldein eine kleine Provision, Ihr zahlt aber keinen Cent mehr.

Das Titelbild stammt von Natalie Kaplan.

Ähnliche Artikel