Ein riesiger Gartenzwerg läuft eine Treppe hoch.
23. September 2014 Lesezeit: ~9 Minuten

Albträume

Albträume. Wer hatte sie als Kind nicht? Gruselige spinnenbeinige Tiere unterm Bett, Gespenster, die an den Rollläden kratzen, böse Clowns im Wald, die Kinder in den Hochstand locken. Wir alle kennen das so oder anders noch aus unseren Kindheitstagen, doch die meisten dieser Träume, die uns damals so sehr beschäftigt und verängstigt haben, sind heute längst vergessen.

Der häufigste Grund, warum wir heute nachts aufschrecken, ist die Panik, einen wichtigen Termin zu verpassen oder die Sorge um nahstehende Menschen. Vielleicht gibt es noch den einen oder anderen Albtraum, der sich so tief eingebrannt hat, dass wir uns auch noch nach Jahren an ihn erinnern können.

Ich habe heute äußerst selten solche skurrilen und detaillierten Albträume, wie ich sie als Kind hatte. Vielleicht hat sich meine Fantasie verändert, vielleicht habe ich die Angst vor Übersinnlichem verloren, denn so träumen wie damals, das kann ich heute gar nicht mehr.

Obwohl Menschen in jedem Alter ihres Lebens träumen, sind sie im frühen Kindesalter besonders sensibel und empfänglich dafür. Die Abgrenzung zwischen Realität und Fantasie ist bei jüngeren Kindern viel weniger ausgeprägt als im Alter und dies führt zu verwirrenden und ängstlichen Träumen, da das Kind für vieles, was es tagsüber beobachtet, noch keine rationale Erklärung hat und sich somit seiner Fantasie behelfen muss.

Angst, Traurigkeit, Ärger, Verwirrung, Ekel, Enttäuschung und Scham sind die Gefühle, die wir am häufigsten in unseren Albträumen empfinden. Und genau diese Palette menschlicher Emotionen bietet auf der künstlerischen Ebene viel Platz für Interpretationen.

Ein Junge hat Wurzeln anstelle von Händen.

Ein Wesen in scharzem Umhang hält ein Kind fest.

Der 1940 geborene New Yorker Künstler Arthur Tress hat sich schon vor 50 Jahren viele Gedanken um die fantasievolle Traumwelt der Kinder gemacht, vor allem Albträume haben ihn fasziniert. Im Alter von zwölf Jahren bekam er von seinem Vater seine erste Kodak geschenkt, das Filmentwickeln brachte er sich durch Zeitschriften und geliehene Büchern aus der Bibliothek selbst bei.

Schon früh interssierte er sich für das klassische Schwarzweiß-Kino und begeistert von den Surrealisten rund um René Magritte entwickelte er seinen Hang zu melancholischen und fantastischen Bilderwelten. Zufälligerweise hatte er Ende der 60er Jahre die Möglichkeit, in einem alljährlichen Kreativ-Workshop mit Kindern in Manhatten mitzuarbeiten und das damalige Thema war „Träume“.

Dies brachte Arthur auf die Idee, sich mit den Kindern über ihre Albträume zu unterhalten, zumal er seine eigenen Träume als banal und alltäglich beschreibt. Später befragte er auch Freunde, an welche prägnanten Träume aus ihrer Kindheit sie sich noch erinnern können.

Ein riesiger schwarzer Rabe sitzt über einem Jungen.

Ein Mann verbrennt seiner Frau die Hand mit einem Bügeleisen.

Arthur begann, diese Albträume mit den jeweiligen Kindern nachzustellen. Oftmals ist es schon der gewählte Ort allein, der dem Bild seine düstere Stimmung verleiht, sodass die Schwierigkeit der Darstellung eines Traumes überwunden werden konnte. Ein alter Autofriedhof, verlassene Häuser – er fand viele Möglichkeiten, zu improvisieren und die Fantasien der Kinder zu inszenieren, was allerdings für die Fotografie der 60er und frühen 70er Jahre sehr untypisch war.

Damals wurde in New York hauptsächlich Straßenfotografie gemacht, „staged photography“ – also gestellte Bilder wie auf einer Theaterbühne – war gegen den Strom. Er schaffte es, diese fantastischen Traumsequenzen in einem sehr realistischen, fast schon dokumentarischen Stil zu visualisieren. Und Arthur sollte mit seinen gruseligen und düsteren Bildern Erfolg haben, denn:

Ich sehe auch nicht länger den Unterschied zwischen gestellter Fotografie, inszenierter Fotografie, Konzeptfotografie oder dokumentarischer Fotografie. Sie sind doch alle nur Projektionen der Fantasie des Fotografen. Dieser Stil wurde mein Markenzeichen für die nächsten 20 Jahre, diese Art von surrealer und verstörender Fotografie.

Ein Junge ist in Sand eingegraben.

Ein Kind schaut aus dem Dach eines schwimmenden Hauses heraus.

Ein Kind hat Hörner anstelle von Ohren.

1972 stellte Arthur Tress erstmals seine Albtraum-Serie aus, ein Jahr später erschien das Fotobuch „Dream Collector“*. Durch die Veröffentlichung schaffte er es, Vorurteile über inszenierte Fotografie abzubauen, verhalf dieser schließlich zum Durchbruch und wurde damit wegweisend für viele Fotografen und Fotografinnen nach ihm.

Die Kinder, die der heute 73-Jährige in den 60er Jahren auf den Straßen New Yorks nach ihren Albträumen befragt hat, sind in einem ganz anderen Umfeld als unsere heutigen Kinder aufgewachsen. Und dennoch würde ich behaupten, zum Leben erweckte Märchenfiguren oder riesige Raben können auch heute noch in nächtlichen Fantasien in Kinderköpfen auftauchen.

Beim Erschaffen dieser Szenarien kommt es oft zu einer Kombination aus dem eigentlichen Traum, mystischen Archetypen, Märchen, Horrorfilmen, Comics und einem Spiel der Fantasie. Diese Erfindungen reflektiert oft das Innere des Kindes, seine Hoffnungen und Ängste sowie die symbolische Verwandlung in seine Lebenswelt, wie Zuhause oder Schule, in ganz neuen Formen. Und ich wollte wissen, wie diese Visionen darstellbar sein könnten.

ein Mädchen trägt einen riesigen Kegel als Hut.

Ein riesiger Ball überrollt einen Jungen.

Eine Braut und ein Bräutigam in einer Person.

Nichtsdestotrotz wäre es spannend, heute Kinder nach ihren Albträumen zu befragen und diese fotografisch umzusetzen, vor allem wenn es stimmt, dass wir in unseren Träumen unsere Realitätswahrnehmung verarbeiten. Kindliche Traumbilder als kleine Sozialstudie: Inwieweit sich die Gute-Nacht-Geschichten, Kinderfilme und Medieneinflüsse heutzutage auf die Träume und Albträume von Kindern auswirken, das wäre sehr interessant.

Haben Kinder in den 60ern, in denen Hitchcocks „Die Vögel“ in die Kinos kam, anders geträumt als die junge Generation, die in den 70ern „Der Exorzist“ gesehen hat und wieder anders als Kinder zu Zeiten von Kings „Es“ in den 90ern?

Arthur Tress’ Fotos wären somit Zeitzeugen der Ängste, die Kinder vor rund 50 Jahren die Nacht über gequält haben. Aber wie sähe dieses Kopfkino heute aus? Genau das habe ich ihn abschließend auch gefragt und auch er glaubt, dass Kinder von damals im Traum mit den selben Archetypen wie heute zu kämpfen haben. Dennoch vermutet er:

Obwohl, mit all dem Input der visuellen Welt mit ihren Spezial-Kinoeffekten und Videospielen träumen Kinder heute vielleicht sogar in 3D, Surround Sound und HD. Ich hatte als Kind beispielsweise auch nur Schneewittchen und nicht Guardians of the Galaxy.

Ein riesiger Gartenzwerg läuft eine Treppe hoch.

Ein Karussellpferdchen überfällt ein Kind.

Eine Hexe in der Form eines alten Sessels.

Würde man seine Serie fortsetzen, kämen heute sicher mit Hilfe von Digitaltechnik und Nachbearbeitung in Photoshop rein technisch gesehen ganz andere Ergebnisse heraus, als Arthur Tress vor knapp 50 Jahren mit rein analoger Ausrüstung und seiner zweiäugigen Rolleiflex darstellen konnte.

Der Mittelformatfotografie ist er viele Jahre lang treu geblieben, auch wenn er sie 1974 sogar vor Henri Cartier-Bresson verteidigen musste, der bekanntermaßen eher dem Kleinbildfilm verfallen war. Und auch, wenn sie sich nicht auf das Format einigen konnten, teilten sie doch die Liebe zum Surrealismus und achteten die Arbeit des anderen. Heute fotografiert Arthur Tress mit einer Hasselblad, aber Photoshop besitzt er immer noch nicht.

Vielleicht ist die wahre Revolution in der hohen Qualität zeitgenössischer Fotografie heutzutage nicht der Computer oder die Digitalkamera, sondern die Ausbreitung exzellenter Bearbeitungsprogramme, Workshops und Fotomessen, die es in meinem Alltag gar nicht gab. Vielleicht aber habe ich als Autodidakt einen besonderen Sinn für Eigeninitiative und die Neugierde für lebenslanges Lernen hat mir geholfen, Kommerzialisierung oder Langeweile in meinen Arbeiten zu vermeiden.

Ein gruseliger Hockeyspieler mit Maske.

Mistgabeln liegen auf einem Bett mit Blättern.

Abschließend kann ich nur sagen, dass ich seine Bilder und vor allem diese Serie großartig finde. Beängstigend und verstörend, aber auch eine Zeitreise in unsere Kindertage, in denen uns die eigene Fantasie manchmal schlaflose Nächte gebracht hat. Arthur Tress gehört sicherlich zu den wichtigen Fotografen der 60er und 70er Jahre in New York, auch heute noch stellt er aktuelle und frühere Serien in großen und kleinen Ausstellungen überall auf der Welt aus.

Seine Arbeiten hängen in Museen und Galerien, sind in Bildbänden und Monografien zu sehen, er hat allerhand Preise gewonnen und trotz aller Berühmtheit hat er sich die Zeit genommen, mir einige Fragen zu beantworten. Gerade in den letzten Jahren sind seine frühen Werke wiederentdeckt, medial weit gestreut worden und heute relevanter denn je, wobei er vermutet, den traurigen Grund dafür zu kennen:

Vielleicht hat es genau deshalb eine so große Internetreaktion auf diese starken Bilder gegeben, weil in den vergangenen Jahren mit dem Wiederaufleben der schrecklichen Bombenanschläge von Gaza, Irak und Afrika die Welt augenscheinlich wieder ein sehr beängstigender und gefährlicher Ort geworden ist.

Der „Dream Collector“ scheint genau dieses Unwohlsein und diese Ängsten mit uns als verletztlichem Opfer aufzugreifen. Unsere Ängste in einem konkreten Bild verarbeitet zu sehen, ist also etwas Beruhigendes, wie wenn einen damals die Eltern nach einem verstörenden Albtraum getröstet haben.

Mit herzlichem Dank an Arthur Tress für seine Antworten und die Bereitstellung von Fotografien und Interview-Material.

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