Blick durch ein Fenster in einen verlassenen Raum.
19. September 2014 Lesezeit: ~5 Minuten

Über Pfade und Grenzen hinweg

Vor etwas mehr als zwei Jahren begann ich, meine Zeit zwischen Seattle und dem ländlichen Pacific County, etwa 230 km südwestlich der Stadt, aufzuteilen. Der Landkreis ist einer der ältesten im Bundesstaat Washington. Die Gründung durch die Regierung des Gebiets Oregon geht zurück auf das Jahr 1851. Die Gegend erhält ihre Dramatik durch den Columbia River, der hier in den Pazifik mündet.

Die Landschaft ist gekennzeichnet durch große Vorkommen an Bodenschätzen, dramatische Geschichte und vielschichtige Erinnerung. An dieser Stelle erwähnte die Expedition von Lewis und Clark 1805 das erste Mal den Pazifik. Sie fanden, was sie gesucht hatten, nachdem sie ein Jahr zuvor in St. Louis aufgebrochen waren.

Die Gruppe hatte sich am Columbia River wochenlang versteckt, an einem Ort, der sich heute „Trostlose Nische“ (Dismal Niche) nennt. Ironischerweise handelt es sich heute um einen Rastplatz am Highway 4, der mit einer Infotafel zur Geschichte und pittoresken Ansichten von Astoria (Oregon) und der Megler Bridge ausgestattet ist.

Eine alte Autowaschanlage im harten Sonnenlicht.

Anderthalb Kilometer weiter westlich liegt das Middle Village Station Camp, seit jeher Heimat der Chinook, die seit Tausenden Jahren entlang des Columbia River lebten und Handel trieben. Heute leben mehr als 20.000 Menschen im Pacific County.

Über dass ganze Land verteilt finden sich Gemeinschaften, die das kulturelle und ethnische Erbe der Auswanderer aus Schweden, Dänemark, der Schweiz, Norwegen und Finnland pflegen, genauso wie die Nachfahren der Chinook, die in Bay Center, Chinook und Ilwaco leben.

Ein Zaun vor einem dunklen Wald.

Forts des Militärs findet man noch als Ruinen, Überbleibsel ihrer vergangenen Bestimmung, vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Schließung nach dem zweiten Weltkrieg die strategisch wichtige Mündung des Columbia River zu überwachen.

Die Forts sind nun als Parks für Besucher zugänglich und bei Campern beliebt als Sehenswürdigkeit oder einfach nur, um sich in der Natur zu erholen. Die Schützenstände stehen immer noch. Von den Bunkern jedoch stehen nur noch die Umrisse der aus Beton gegossenen Fundamente.

Beobachtungsposten gewähren weithin Ausblick auf den Columbia River sowie eine Mischung aus Einkaufszentren, freiem Feld und Campingplätzen.

Blick auf ein entferntes Gebäude.

Zu den Städten des County gehören Raymond, die größte Stadt, South Bend, der Verwaltungssitz, und eine Anzahl kleinerer Städte, deren Wirtschaft einst dank des Reichtums an natürlichen Ressourcen gedieh. Was für die Region dereinst Holz und Fischfang waren, ist heute der Tourismus und die Freizeitindustrie.

Die historischen Stadtzentren verfallen, das alte Schild der Firma Sears & Roebuck an einem Ziegelsteingebäude verwittert langsam. Willapa Bay, ein Meeresarm und durch die Halbinsel Long Beach vom Pazifik getrennt, ist bekannt für seine vielfältige Flora und Fauna.

Es ist eine intensiv genutzte Bucht, die Grundlage der lokalen Austern- und Fischereiindustrie ist. Neun Prozent aller Austern in den USA werden hier von den Austern-Männern und -Frauen gezüchtet. Der Meeresarm und seine Flüsse bieten ein reichhaltiges Ökosystem aus Wald, Grasland sowie Küstenpflanzen und -tieren.

Ein alter Platz, auf dem zwei aufeinandergestapelte Waschmaschinen stehen.

Das Fotografieren in dieser geographischen und kulturellen Landschaft bringt mich auf neues Terrain, nicht nur in Bezug auf die Landschaft und das Meer, sondern auch was meine Vorstellungskraft betrifft. Ich interessiere mich für das Erinnern als aktiven Wandel und als stetige Erneuerung. Ich sehe historische Momente, Bauwerke und Wahrzeichen im Nebeneinander mit dem, was heute daraus geworden ist.

Ich sehe, worauf das heutige wirtschaftliche Wachstum und Gedeihen fußt. Ich sehe die kulturelle Assimilation, die territoriale Inbesitznahme und die Auslöschung der Ureinwohner. Es bleiben Überreste aus einer Zeit, als reger Handel und Industrie die Grundlage für wachsende Wirtschaft waren und gleichzeitig die Ausbeutung der Umwelt quer durch das gesamte, noch immer vorhandene Ökosystem stattfand.

Ein Kreuz an einer Hauswand.

Das „Damals“ und das „Jetzt“ verschwimmen zwischen den Artefakten natürlicher und menschengemachter Landschaften, von gefundenen und gebauten Objekten, die ein imaginiertes und ein reales kulturelles und soziales Erbe durchscheinen lassen.

Oberhalb des Willapa River reiht sich Hügelkette an Hügelkette. Die Anhöhen sehen kahl und leer aus, wenn sie durch die Holzwirtschaft freigelegt werden.

Schnitte wie gerade Linien wirken wie Narben entlang des Highway 101 von Olympia bis zum Pazifik. An jeder Stelle des Highways kann ich, durch das Autofenster wie in ein Bild gerahmt, schauerlich wirkende Sitka-Fichten und Weißkopfseeadler erblicken.

Blick aufs Meer. Weite.

Hinter der nächsten Kurve finde ich Bäume, die bis auf den zersplitterten Stumpf amputiert sind und verstreutes Geäst. Das Land ist verwüstet und Falken kreisen am Himmel; Bilder einer verrückten Fantasie. Im Sommer zieht ein stetiger Strom aus Campern in Wohnmobilen mit Namen wie „Herumtreiber“, „Geschoss“, „Elite“ oder „Expedition“ und Pickup-Trucks mit Bootsanhängern auf dem Weg nach Westen bis an den Ozean.

Sie passieren Middle Village, Dismal Niche und Cape Disappointment, auf ihrem Weg zu den Strandpromenaden mit ihren salzigen Toffees, der Eiscreme und den hell leuchtenden Windsäcken an der sonnigen Urlaubsküste.

Ein altes Motel-Schild am Wegesrand.

Dieser Artikel wurde von Tilman Haerdle aus dem Englischen übersetzt. Danke an Grryo für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe.

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