Eine Bahnüberführung
16. August 2014 Lesezeit: ~6 Minuten

Abseits touristischer Faszination

Juri Gottschall ist ein Fotograf aus München, der neben seiner journalistischen Tätigkeit für verschiedene Magazine ein sehenswertes Portfolio freier Arbeiten vorweisen kann. kwerfeldein-Gastautor Tilman Haerdle traf ihn in seinem Lieblingscafé.

Der Anruf kommt kurz vor eins. Um halb zwei würde es zeitlich für ein Gespräch passen. Juri Gottschall ist gut beschäftigt und so nutze ich die sich kurzfristig bietende Gelegenheit für ein Treffen mit ihm, um über seine Fotografie zu sprechen.

Am vereinbarten Treffpunkt angekommen, suche ich mir einen Tisch im Schatten, im Innenhof der Glyptothek am Münchner Königsplatz. Juri trifft kurz nach mir ein, er hatte dieses Café vorgeschlagen, ein schöner und stiller Ort, fast wie das Atrium eines römischen Hauses, mit altem Baumbestand, der in der Hitze willkommenen Schatten spendet.

Ein fast leerer Parkplatz.

Ein moderner Flur.

Juri Gottschall ist Fotograf, er arbeitet freiberuflich, häufig für die Süddeutsche Zeitung, unter anderem für das Jugendmagazin jetzt.de. Thema unseres Gesprächs ist nicht seine Arbeit als Journalist, sondern seine Projekte, die er als freischaffender Fotograf realisiert. Natürlich die Frage, wie er zur Fotografie kam.

Der Vater Fotograf, die Mutter Journalistin, da scheint der Weg vorbestimmt. Tatsächlich stellte er sich schon früh hinter die Kamera, experimentierte in der Dunkelkammer, lieferte Fotos für die Schülerzeitung.

Doch die Entscheidung, mit dem Bildermachen auch Geld zu verdienen, fiel erst spät und graduell. Man merkt, dass Juri Gottschall nicht süchtig danach ist, jederzeit den Auslöser betätigen zu können. Zum Termin kommt er ohne Kamera.

Grünfläche in einer Wohnanlage.

Teilweise abgerissenes Hotelgebäude.

Sieht man sich die Projekte an, die er auf seiner Website präsentiert, stellt sich anfangs Ratlosigkeit ein. Spektakuläre Bilder, die den Betrachter in Bruchteilen einer Sekunde, beim schnellen Durchscrollen anspringen, findet man hier nicht.

Fast könnte man den Eindruck gewinnen, er entzöge sich absichtlich dem Wettbewerb um das Extrem: Das höchste Gebäude, die schönste Frau, die irrwitzigste Straßenszene. In seiner Serie „Italia“ beschreibt er das Land, das eine seiner Lieblingsdestinationen ist, mit Bildern, immer knapp an Sehenswürdigkeiten vorbei, sorgsam bemüht, jedes postkartentaugliche Motiv zu vermeiden.

Die Zutaten sind alle da: Meer, Zypressen, der morbide Charme alter Gebäude. Die Vervollständigung passiert im Kopf des Betrachters, der die Bilder mit seiner eigenen Erfahrung des Landes kombiniert.

Portrait zweier Männer neben einer Wand mit verschiedenen Urnen.

Ein Mann sitzt einer Frau und einem Mann gegenüber und denkt.Portrait einer Frau.

In seiner Sammlung „Architektur“ wechseln sich ästhetische, stille Bilder von minimalistischen Innenräumen ab mit Parkplätzen von Supermärkten, Einfamilienhäusern vom Reißbrett und kargen, menschenleeren Grünflächen. Schnappschüsse? Visuelle Tagebücher?

Juri Gottschall plant seine Projekte, er recherchiert, konzipiert, besucht die anvisierten Orte mehrfach. Das gemachte Bild ist nur ein kleiner Teil dieses Prozesses und längst nicht der Endpunkt.

Die Nachbearbeitung des digitalen wie des analogen Bildes nimmt einen weiteren großen Teil seiner Zeit ein. Das Ergebnis ist zeitlos, keiner aktuellen Mode zuzuordnen. Sähe man nicht beispielsweise Autos aktuellen Baujahrs, könnten die Fotos auch Jahrzehnte alt sein.

An der handwerklichen Qualität gibt es keinen Zweifel. Was bewirkt jedoch, dass man sich an diese Bilder erinnert, obwohl auf den ersten Blick nichts dargestellt ist, was das Auge anzieht?

Ein Begriff, gelesen in einem anderen Blog, bringt vielleicht einen Ansatz: Es sind Bilder jenseits der touristischen Faszination. Bilder eines Menschen, der mit dem Terrain vertraut ist und der die naheliegenden Sehenswürdigkeiten bereits abgehakt hat.

Zwei Mädchen albern in der Dämmerung herum und lachen.Eingang zu einer Pizzeria.

Bunte Sonnenschirme auf einer Terrasse im Grünen.

Inmitten der Architektur-Serie ein Foto des im Abriss befindlichen Holiday Inn in Schwabing. Eine Münchner Institution. Das Bild ragt heraus, es ist auch Teil der in den USA gezeigten Ausstellung „The Art of Photography“. Die Entstehung? Gottschall kam mit dem Auto am Ort vorbei, das Licht stand günstig, der Himmel war perfekt blau.

Anhalten, dank Erlaubnis der Bauarbeiter die Baustelle betreten und fünf bis zehn Bilder machen. Spontan. Unüblich für einen, der sonst alles plant und vorbereitet. Der sich Zeit nimmt. Es scheint wie ein Beleg: Außergewöhnliche Ereignisse provozieren außergewöhnliche Bilder.

Ein paar spielt an einem Tischkicker vor einem Meer.Ein verlassener Tisch in einem Café am Strand.
Ein Betonbau in der Nacht.Parkhausausfahrt.

Für das Magazin „jetzt“ fotografiert er oft Menschen. Die Bilder erscheinen einfach, spontan. Tatsächlich sind sie, wie die Serie nächtlicher Heimkehrer, im Verlauf mehrerer Nächte entstanden. Nicht jeder kooperiert. „Architektur dagegen kann nicht weglaufen, sie erlaubt mir, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Wenn es heute nicht klappt, dann ein andermal.“

Die Serie „Schüler“ erinnert mich an frühe Bilder von Thomas Ruff, der überlebensgroße, verstörende Portraits ausstellte. Die Parallele hat Gottschall bisher nicht gezogen, er sieht sie, aber es war keine Vorgabe für ihn. Man hat das Gefühl, den Menschen zu sehen, wie er ist. Kein veredelndes Schwarzweiß, keine beschönigende Lichtsetzung.

Eine Hausfassade mit vielen Fenstern.

Eine Hausfassade mit vielen Fenstern.

Für sein jüngstes Projekt, die Parkhäuser, verwendete er eine Großformatkamera. Hier kommt er zum ersten Mal ins Schwärmen. Das Arbeiten mit Film, mit großen Negativen macht ihm Freude. In Zeiten hochauflösender Digitalkameras vielleicht ein überholter Luxus. Der unglaubliche Detailreichtum dieses Formats reizt ihn.

Sein Wunschtraum: Einmal Abzüge direkt vom Großformat-Negativ machen zu lassen. Auch für dieses Projekt, für das er sich Objekte mit viel freier Fläche und sparsamer Bebauung suchte, war viel Recherche nötig.

Welches Parkhaus erfüllt die Kriterien? Wann ist der beste Zeitpunkt für das gewünschte Bild? Nicht überall lässt sich der Plan in die Tat umsetzen. Wenn jemand mit großem Stativ und auffälliger Kamera lange auf dem Dach eines Parkhauses steht, wird mancher misstrauisch.

Eine Imbissbude mit Koch und drei Gästen an einem Tisch davor.

Leinwand auf einem leeren Parkplatz.

Aktuell wird die Serie noch bis Mitte August im Münchner Goethe-Institut unter dem Titel „VISIONEN“ gezeigt. Im Oktober folgt eine Ausstellung in nochmals größerem Rahmen und Umfang. Die Arbeiten daran laufen schon jetzt. Ohne gute Vorbereitung stimmt auch hier für ihn das Ergebnis nicht.

Als wir uns trennen, steigen wir beide auf’s Rad. Das nächste Vorhaben beginnt bereits in der Nacht: Er begleitet eine Kollegin, die eine ganze Nacht lang mit dem Fahrrad durch München tourt. Auf die Bilder bin ich gespannt.

Mein Entschluss ist es, auch bei anderen Fotografen genauer hinter die Kulissen zu schauen. Wieso fotografieren sie so, wie sie es tun? Was ist der Weg zum Bild?

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