30. Juli 2014 Lesezeit: ~9 Minuten

Frankenstein und Persephone

Fotografie ist für mich ein Medium sinnlicher Reflexion. Ich habe mich oft gefragt, ob man eigentlich aus einem Moment, dem man beiwohnt, und den man fotografieren möchte, aussteigt oder ob man als Teil des Moments agiert und dem Moment, vermittels der Fotografie, eine Metaebene hinzufügt. Ich möchte das für mich nicht entscheiden, sondern finde es spannend, das im Vagen zu lassen.

Ich stelle mir das Fotografieren manchmal so vor wie eine Flucht von Zimmern in einem Traum. Man kommt einfach nie an. Und darum geht es auch nicht. Es ist eine Reise und ein Spiel mit den Grenzen unserer (menschlichen) Wahrnehmungsfähigkeit, der Erinnerung und der Zeit an sich.

Fotografie ist dabei mehr als nur eine Krücke für einen Gedanken, sie wird zum Gedanken selbst. Im Zentrum steht für mich seit ich denken kann die Frage nach dem „Jetzt“. Das Wort hat mich immer fasziniert. Was ist das „Jetzt“ für eine flüchtige Größe!? Warum erleben wir manche Werke (der Kunst) als „überzeitlich“, „zeitlos“? Ich habe angefangen, mir diese Fragen zu stellen, als ich noch sehr jung war. Sie haben mich über Umwege zur Fotografie gebracht und binden mich weiterhin daran.

Eine Frau hockt auf dem Boden und versteckt ihr Gesicht. An der Wand hängt ein Bild von ihr.

Zwei Frauen richten sich auf, der Bewegungsverlauf ist zu sehen.

Mehrere Leute stehen an einer Wand.

Gruppenprojekt mit den Schauspielstudenten der Schauspielschule (Institut „Hans Otto“ an der HMT Leipzig), mit denen ich gemeinsam Bilder Francesca Woodmans nachahmte.

Ich habe bis jetzt stets dort fotografiert, wo ich gelebt und gearbeitet habe. Das war in den letzten Jahren hauptsächlich am Theater. Inzwischen mache ich regelmäßig Portraits von Schauspielern, die sie für Agenturen und ihre Theaterbewerbungen nutzen können. Obwohl dies „Aufträge“ sind und ich meinen eigenen fotografischen Anspruch in gewisser Weise dem Nutzen und Zweck der Fotos unterstellen muss, reizt mich das Medium des Portraits.

Außerdem sehe ich Schauspieler immer noch als Teil einer großen Theaterfamilie an, die auch irgendwie noch meine Familie ist. Auch mit Schauspielern, die ich vorher nicht persönlich kannte, hat man mindestens zwei, drei gemeinsame Bekannte, mit denen man schon mal zusammengearbeitet hat. Das verbindet und intensiviert die Arbeit am Portrait.

Über einen Abendkurs an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig habe ich begonnen, mich auf andere Weise dem Medium Portrait zu widmen. Ich habe eine Reihe Menschen in ihren Schlafklamotten fotografiert. Äquivalent dazu: Den Ort, an dem sie schlafen.

Eine Frau sitzt auf dem Boden vor einer Tür.

Man sieht auf ein ungemachtes Bett.

Ein Mann mit Brille sitzt auf einer Couch.

Am Ende habe ich die Fotos der „Schläfer“ und „Bettstätten“ in einem Buch zusammengeführt, wobei es mich nicht interessiert hat, das Portrait der Person neben das Portrait ihres Bettes zu stellen. Die Präsentation sollte sich im Gegenteil einer dokumentarischen Ansicht verwehren und in der Mischung und Zusammenstellung der einzelnen Fotografien etwas Neues kreieren. Ich betrachte das Projekt noch nicht als abgeschlossen und würde gern noch weitere Menschen und Betten fotografieren.

Zentrum meines fotografischen Interesses ist jedoch weiterhin das Theater. Ich suche im Moment nach Möglichkeiten, weiterhin Backstage fotografieren zu können, ohne selbst Teil des Arbeitsprozesses zu sein.

Das ist nicht einfach, da die Theaterwelt ein sehr geschlossener, fragiler Kosmos ist. In naher Zukunft plane ich daher, ein paar befreundete Schauspieler vor oder nach der Vorstellung zu begleiten und zu schauen, was auf diese Weise möglich ist.

Für meine Gedanken über Zeit, Jetzt und Raum sind für mich Theater und Fotografie regelrecht symbiotisch verknüpft: Denn das Theater ist der Frankenstein einer aus der Erinnerung sich selbst formenden Identität. Es erhebt den Anspruch, den Moment (das Jetzt) künstlerisch wiederholbar zu machen.

Auf einem Monitor sind eine Reihe von Menschen auf einer Bühne zu sehen.

Jemand schaut auf die Bühne, jemand steht auf der Bühne, beide schauen sich an.

Ich habe die Fotoserie meiner Backstage-Fotos mit dem Titel „Ich habe keine Angst zu sterben“ versehen. Das hat mehrere Gründe: Zunächst wäre vielleicht anzumerken, dass „sterben“ hier nicht buchstäblich gemeint ist, ich verwende es hier als Idee, vielleicht als Metapher.

Zum einen hat ein reales Theatererlebnis den Ausschlag zum Titel gegeben: Wir haben den Roman „Der Schneesturm“ von Vladimir Sorokin für das Theater inszeniert. In dem Roman reitet ein Arzt in einer nicht näher bestimmten Zukunft durch ein verschneites Sibirien. Seine Kutsche wird von 50 sogenannten Pferdis gezogen und auf dem Weg zu einem Dorf, das er natürlich nie erreichen wird, begegnen ihm gläserne Pyramiden, Zwerge, Riesen, eine schöne Müllerin und Drogenhändler, die sich Dopaminierer nennen und ihm eine spezielle Art der rauschhaften Bewusstseinserweiterung verkaufen. Der Schneesturm ist bei allem der wegweisende bzw. irreführende Protagonist.

In unserer Inszenierung wurde der Schneesturm von einer kleinen Theatergruppe geistig behinderter Menschen dargestellt. Jeder war als Schneeflocke mit einem weißen Tutu auf dem Kopf verkleidet.

In der kurzen Szene, die sie gespielt haben, musste jede Schneeflocke einen kurzen Satz in ein Mikrofon sprechen; die ersten sagten einfach: „Mein Leben“, nur die letzte Schneeflocke sollte den Satz „Ich habe keine Angst zu sterben“ sprechen. Rührend war, dass die Statisten den ersten Teil sehr gut verstanden haben, manche haben sogar darauf bestanden, dass sie unbedingt „Mein wundervolles Leben“ sagen wollten.

Blick auf die Bühne im Gegenlicht mit viel Rauch und einem Klavier sowie Menschen.

Eine Muschel im Vordergrund, eine Bühne dahinter und ein Wirrwarr aus Lichtern.

Ein Kreuz und Licht und eine Gestalt wie ein Vampir.

Nur der Satz „Ich habe keine Angst zu sterben“ hat dem Statisten kognitive Probleme bereitet. Man hat einfach gemerkt, dass er nicht verstand, was er da sagen sollte. Das hat uns alle verblüfft und in leiser Hilflosigkeit tief berührt. Schließlich sagte er immer wieder „Ich habe keine Angst zum (sic!) Sterben.“ Das war merkwürdigerweise so melodisch und so ein intensives Theatererlebnis für mich, dass es einfach hängen geblieben ist.

Und da mein Interesse an Fotografie und Theater ohnehin aus Fragen nach der Formbarkeit von Zeit hervorgegangen ist und nur das Sterben einen Punkt hinter unsere Zeit setzt, ist es eben zum Titel für diese erste kleine Auswahl meiner Theaterfotos geworden.

Zu Beginn meines Interesses an Fotografie standen sehr frühe, naive Fragen über die Möglichkeit, Zeit anhalten zu können. Irgendwann wurden diese Gedanken mit der Frage nach der Unfassbarkeit des Jetzt erweitert. Im Nachhinein erscheint es mir logisch, dass ich beides mal machen musste: Fotografie und Theater. Im Grunde sind es philosophisch-anthropologische Fragen, die mich reizten und von denen ich denke, dass beide Medien, Theater und Fotografie, irgendwie gezwungen sind, damit umzugehen.

Im dynamischen Prozess des Erinnerns, Wiederholens, Neu-Erschaffens und Vergessens lebt der Mensch und bildet seine Identität. Das Jetzt bleibt für uns unfassbar, fluid, ich selbst erscheine mir im Jetzt möglicherweise anonym. Erst in der Erinnerung schaffen wir ein Bild unseres Selbst und können erahnen, dass wir lebendig sind. Dabei vollbringe ich den Prozess, mir mich selbst vorzustellen.

Eine Frau vor einem Spiegel, ein Kleid an der Wand.

Eine Mann stütz seinen Kopf auf seine Hände und schaut vielleicht in den Spiegel.

Das Theater ist ein Ort, der an diesen sensiblen Punkt unseres Daseins rührt. Die Aufgabe des Schauspielers bei jeder Theatervorstellung, wiederholt (!) Körpererinnerung, Textgedächtnis, emotionales Gedächtnis, Bildassoziationen, Träume im Hier und Jetzt zusammenfließen zu lassen, ist die künstlerische Kür, die den Schauspieler vom Alltagsmenschen und anderen Künstlern unterscheidet.

Ich habe in den Jahren seit 2003, in denen ich am Theater gearbeitet habe, zunächst als studentische Darstellerin, dann als Hospitantin, sogar mal als Souffleuse und schließlich 2010 bis 2013 als feste Regieassistentin am Centraltheater Leipzig (heute: Schauspiel Leipzig), den Entstehungsprozess von Stücken, Momente des Luftholens, die Atmosphäre des spielerischen Schöpfens mit einer Kamera begleitet.

Nie hatte ich das Bedürfnis, das „fertige Produkt“, die Szene, das Spiel der Schauspieler vor Publikum zu fotografieren. Immer waren es diese stillen Zwischenmomente am Scheitelpunkt zwischen Realität und Fiktion, die meinen fotografischen Blick angesprochen haben.

Inzwischen weiß ich, dass ich versucht habe, über die Fotografie herauszufinden, was mich eigentlich am Theater so faszinierte. Die komprimierte Lebensenergie, die ein Jetzt produziert, ein Jetzt, dem das Bewusstsein innewohnt, dass es vorübergeht.

Eine Frau im Kleid hebt die Hände nach oben.

Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, die Fotografie besser begreifen zu lernen, wenn ich versuchte, parallel der Theaterarbeit auf den Zahn zu fühlen. Die Vorstellung, mit der Fotografie Zeit anhalten zu können, hat sich dabei für mich als größtes Missverständnis über das Medium Fotografie herausgestellt.

Wohl arbeitet Fotografie mit Zeit und Raum; indem das Ergebnis eine eingefrorene Zeiteinheit visualisiert, friert es Zeit nicht ein, hält sie nicht auf, sondern weist, in dem für das menschliche Auge nur fragmentarisch wahrzunehmenden Augenblick, auf die Möglichkeiten und Grenzen unserer Wahrnehmbarkeit – oder genauer: auf den Scheitelpunkt zwischen Realität und Fiktion – hin.

Ein Punkt, der an die Grundsätze unseres Seins führt, nicht umsonst benennt der Autor Wolfram Lotz ihr Zusammentreffen als „eine heilige Kollision“.

Ich erinnere mich – mich erinnere ich. Realität und Fiktion – die Gleichzeitigkeit dieser beiden Größen liegt beiden künstlerischen Medien, dem Theater und der Fotografie, zugrunde. Beides sind Stöcke mit zwei Enden.
Nur umgekehrt.

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