Ein Mädchen in langem schwarzen Kleid mit Holzkrone und Stab steht vor einem großen Baum in einem Wald, über ihr Lichtreflexionen.
07. Juni 2014

Die Waldkönigin

Es war einmal ein Mädchen, das im Wald spielte. Sie sammelte Stöcker, Kiefernzapfen und Schneckenhäuser. Auf einer kleinen Lichtung fand sie dabei eine Holzkrone, versteckt im Gebüsch. Sie setzte sich die Krone auf den Kopf und tat, als wäre sie die Königin des Waldes.

Ein Mädchen mit Holzkrone steht im Wald.

Zuerst bereitete es ihr noch großen Spaß, doch schon bald fühlte sie sich seltsam. Als würde die Farbe aus ihrer Existenz schwinden. Irgendetwas ging langsam verloren, die Geräusche wurden wie betäubt. Hinter etwas, das ihr wie eine Wand aus Glas erschien, konnte sie die Realität sehen. In dieser Realität war ein Mädchen, das aussah wie sie, im Wand stand, eine Krone trug – selbstbewusst, während sie selbst ängstlich war.

Ein Mädchen mit Holzkrone steht im Wald.

Als das Mädchen auf der anderen Seite sich bewegte, tat sie es ebenso. Ohne Kontrolle über ihre Bewegungen folgte sie und spiegelte. Hob einen schweren, sehr alten Stock mit rätselhaften Gravuren von Zeit und Wetter auf. Wanderte durch den Wald und ihr Glasgefängnis wanderte mit jedem Schritt mit.

Ein Mädchen in langem schwarzen Kleid steht mit einem Stab und einer Holzkrone im Wald.

Sie kam auf einer weiten Lichtung an, auf der kein Buschwerk wuchs und wo Lichtflecke durch die Baumkronen fielen und Muster von fremdartigen Buchstaben auf dem Waldboden bildeten. Die alten Kopfbuchen traten einen Schritt zur Seite, als die Holzkrone wuchs. Mehr und mehr Zweige und Äste wuchsen aus den hölzernen Zacken, bis sie ein übergroßes Vogelnest geworden waren, das auf den Boden rund um das Mädchen fiel.

Ein Mädchen in langem schwarzem Kleid steht mit einem Stab in einem überdimensionalen Vogelnest.

Das Mädchen sah nun kopfherum runter, über der Realität hängend. Als sie versuchte, das Glas zu berühren, das sie von der Realität trennte, fühlte sie, dass sie, ihrerseits, ebenfalls das andere Mädchen gegen deren Willen bewegen konnte, auch wenn es alle ihrer noch verbliebenen Gefühle brauchte.

Ein Mädchen hält mit einer Hand einen Stab und greift mit der anderen zu ihrem eigenen Spiegelbild über sich.

Sie versuchte, sich dagegen zu wehren, dass ihre Hand sich zur Welt über ihrem Kopf bewegte, sie konnte es fühlen und bündelte all ihre Kräfte. Ihr Haar begann, zu fallen und hoch zu fliegen, ihre Füße hoben sie vom Boden ab, auf die Glasoberfläche zu.

Ein Mädchen hält mit einer Hand einen Stab und greift mit der anderen zu ihrem eigenen Spiegelbild über sich, ihre Haare fliegen.

Als sich ihre Fingerspitzen berührten, begann das Haar der beiden Mädchen, sich ineinander zu verzwirbeln und die Realität stürzte in eine zusammen, das hölzerne Vogelnest und sein Spiegelbild krachten ineinander. Sie hörte und sah nur noch Chaos.

Ein überdimensionales Vogelnest im Wald.

Es sah aus und hörte sich so an wie ein ganzer Wald aus Glasbäumen, die zerbrachen. Die Scherben schwirrten durch die Luft, nahmen sie mit sich. Vor der ältesten Buche des Waldes kam sie zu stehen, während die Bäume um sie herum weiter zersprangen, in einem großen Strudel um sie herum wirbelten.

Ein Mädchen in langem schwarzen Kleid mit Holzkrone und Stab steht vor einem großen Baum in einem Wald, über ihr Lichtreflexionen.

Sie fühlte, wie Schlaf sie überkam, ausgelaugt von ihren Versuchen, dem Glasgefängnis zu entkommen, sich vor den Glasscherben zu schütze, die die zerbrochene Realität waren. Nur die Spiegelwelt wurde zurückgelassen, während die kleinen Stücke der Realität zu einem Faden verschmolzen, dünn wie eine Nadel und bald zu dünn, um noch gesehen zu werden.

Großer Baum im Wald mit Lichtreflexionen.

Sie erwachte in einem großen, leeren Glashaus. Das Dach und die Wände waren aus den Scherben der Realität gemacht, die den Raum mit gleißendem Licht füllten. Nun stand sie auf der anderen Seite der Glaswand. Sie konnte ihr Spiegelbild auf der anderen Seite sehen.

Ein Mädchen in einem weißen Kleid steht in einem leeren Gewächshaus.

Immer noch fühlte sie ihre Zuversicht und ihren Willen. Sie hatte sich den anderen Teil von ihr genommen und es schien, dass sie ihr nur übrig gelassen, was sie nicht gebrauchen konnte und all die anderen nützlichen Teile genommen hatte. Zurückgelassen war eine seltsame Ansammlung von Furcht, Zweifel, Hoffnung und Mitgefühl.

Portrait von einem Mädchen in weißem Kleid.

Doch sie erkannte, dass die Farbe zurück auf ihrer Seite des Glases war. Und sie erinnerte sich daran, dass die andere Seite das Gefängnis war, nicht diese hier. Sie war hier frei, auch wenn dieser Raum nur ein Traum sein sollte, eine Reflexion der Überreste der Realität.

Ein Mädchen in weißem Kleid.

Sie wendete der Glaswand den Rücken zu, trat langsam näher. Sie rollte sich auf einem Bett von Gestrüpp zusamen, ihren anderen Teil in die Arme nehmend. Flüsternd: Angstvolle Hoffnung, zweifelndes Mitgefühl, sie können nicht existieren. Ebensowenig deine Bruchstücke unseres früheren Selbst.

Ein Mädchen in weißem Kleid liegt im Gras.

Sie umarmten sich und sie schliefen, Seite an Seite, auf dem Boden. Sie fragte sich: Wenn ich in einem Traum einschlafe, wohin gehe ich? Gibt es einen noch tieferen Platz in einer anderen Schicht von Träumen? Ist ein Traum im Traum wieder die Realität?

Ein Mädchen in weißem Kleid liegt im Gras.

Als sie erwachte, hatte sie keine Antwort. Auf einem Baum sitzend, der von dem, was vielleicht ein Traum oder die Realität war, hinüber in die Glaswelt ihres Spiegelbildes ragte, baumelten ihre Füße in einen See. Das Wasser war grün und blau und seine Geräusche waren die von Millionen Glassscherben, aber sie schnitten nicht ihre Haut.

Ein Mädchen in weißem Kleid sitzt auf einem Baumstamm, der ins Wasser ragt.

Sie konnte nicht mehr fühlen, wo das Gefängnis war. War es auf ihrer Seite der Glaswand oder der des anderen Mädchens? Beide bewegten und verdrehten die andere, gespiegelte Welt. Sie drehte das Glas herum, sodass es auf der Wasseroberfläche lag.

Ein Mädchen in weißem Kleid sitzt auf einem Baumstamm, der ins Wasser ragt.

Lass uns Realität und Traum wieder in Ordnung bringen, liebe Schwester, sagte sie zum Spiegelbild. Langsam bewegte und balancierte sie die Glasoberfläche genau auf dem Wasser. Stück für Stück glitt sie vom Baum ins Wasser.

Ein Mädchen in weißem Kleid sitzt auf einem Baumstamm, der ins Wasser ragt.

Die kleinen Scherben wurden zu einer neuen Glasoberfläche, direkt auf der Glaswand des Gefängnises. Sie fühlte, wie ihr Verstand und ihr Körper sich wieder zusammenfügten. Hoffnung hatte wieder Hass, Furcht hatte wieder Vertrauen. Die alten gegenspieler waren wieder vereint in ihr. Es gab nur noch ein ihr. Keine Glaswände mehr.

Modell: Katja Kemnitz