Eine steinerne Bushaltestelle mit Schaf. Dokumentarfotografie.
11. April 2014 Lesezeit: ~4 Minuten

Entlang der Bushaltestellen

Meine Bushaltestellen-Odyssee begann an einem sehr kalten Weihnachtsabend 2011, als ich einen Mann mit erleuchtetem Christbaum passierte, der an einer Haltestelle wartete. Ich zögerte nicht, meine Kamera und das Stativ aufzustellen, um die Szene aufzunehmen.

Nach dieser Begegnung dachte ich ein paar Wochen über das Bild nach und fing an, Ideen zu sammeln, wie ich das Ganze zu einem Projekt machen könnte. Schon immer schätzte ich die „neuen topografischen“ Fotografen wie Stephen Shore, Lewis Baltz und die deutsche Bewegung der Neuen Sachlichkeit, im speziellen die Fotografen Bernd und Hilla Becher.

Eine Bushaltestelle mit besprayten Schildern davor.

Eine sehr heruntergekommene Haltestelle bei Wales.

Daraufhin versuchte ich, Bushaltestellen auf eine direkte, möglichst objektive Weise zu fotografieren und so ein formales Dokument eines Sujets zu erstellen, das (eigentlich) nicht sehr vielversprechend ist.

Nach einer Weile realisierte ich, dass die Haltestellen eine deutlichere Diversität inne hatten als ich ursprünglich erwartet habe. Die Umgebung beeinflusste außerdem Bauweise, Material und Design.

Weil eine Bushaltestelle eigentlich dermaßen langweilig und banal ist, bemühe ich mich, akribisch genau zu komponieren und formale Elemente wie Linien, Formen und Farben zu berücksichtigen.

Eine Bushaltestelle bei Wales, die am Meer liegt und Wellen heraufschlagen.

Eine kleine Bushaltestelle mit Wippeln

Was das Licht angeht, bin ich sehr penibel. Oft besuche ich einen Ort vier oder fünf Mal, bis ich mit der Qualität des Lichtes und der Gesamtkomposition zufrieden bin. Stets mache ich von der Wasserwaage Gebrauch, um sicherzustellen, dass die Kamera horizontal und vertikal perfekt ausgerichtet ist. Ich denke, die meisten Fotografen sind ein bisschen besessen, was das angeht.

Eine Bushaltestelle bei Wales aus Stein an einem düsteren Tage.

Eine Bushaltestelle, neben der noch eine Telefonzelle steht.

Bis zum heutigen Zeitpunkt habe ich über 600 Bushaltestellen fotografiert und finde, dass die Studie mittlerweile eine große Tiefe erreicht hat. Denn Betrachter vergleichen und kontrastieren intuitiv alle Ähnlichkeiten – insbesondere Variationen und das vorhandene Wetter.

Ich liebe die Tatsache, dass ich im Projekt meteorologische Geschehen aufgenommen habe: Küstenstürme, schweren Schneefall, Fluten, Nebel, Herbstblätter, Frühlingsblumen, Regen und so weiter. Quasi ein Mini-Portrait von Wales.

Eine Bushaltestelle bei Wales, die völlige von Pflanzen überwachsen ist.

Eine Bushaltestelle, von der Sonne beschienen. Wales.

Um manche Bushaltestellen zu fotografieren, ist es erforderlich, dass ich mich mitten auf die Straße stelle, was offensichtlich prekär ist. Deshalb trage ich eine reflektierende Sicherheitsjacke und stelle etwas entfernt ein paar Leitkegel auf.

Darum denken viele Leute, dass ich aus offiziellen Gründen vor Ort bin. Das brachte mich lustigerweise schon innerhalb eines evakuierten Bereiches, der aufgrund schwerer Stürme abgesichert war, während die Presse 100 Meter weiter hinten an der Absperrung warten musste.

Meistens stehe ich mit Kamera und Stativ auf der anderen Seite der Straße, was offensichtlich sicherer ist. Jedoch gehen viele vorbeirasende Motorradfahrer davon aus, dass ich einen Geschwindigkeitsmesser habe und beschimpfen mich mit unschönen Sprüchen.

Eine Bushaltestelle bei Wales, die komplett aus Holz ist und vor einer Kapelle steht.

Eine Bushaltestelle bei Wales, die fast nicht zu erkennen ist.

Ich bin oft frustriert, wenn ich nach 100 Kilometern Fahrt feststelle, dass jemand sein Auto direkt vor der Bushaltestelle geparkt hat. Manchmal muss ich vier oder fünf Mal hinfahren, bis kein Auto mehr davorsteht.

Von philosophischer Seite betrachtet, denke ich, dass ich mich deshalb für Bushaltestellen begeistern ließ, weil sie eine Metapher sowohl für hektischen Lebensstil als auch für unsere scheinbare Missachtung für das Nichtstun sind.

An einer Bushaltestelle sind wir gezwungen, zu pausieren und uns umzusehen.

Ich weiß, dass ich von Samuel Becketts Buch „Warten auf Godot“* und seinem „wenig zwingt uns, mehr zu sehen“ inspiriert wurde.

Eine Bushaltestelle bei Wales aus Wellblech

Eine Bushaltestelle im Winter

In dieser geschäftigen und zunehmend ungeduldigen Welt können wir uns fragen: Wie oft halten wir inne, warten und schauen?

Abschließend würde ich sagen, dass ich froh bin, solch ein schrulliges Thema dokumentiert zu haben. Selbst dann, wenn es nur für die Nachwelt ist. Diese homogenen Haltestellen aus Plastik sind überall. Doch diejenigen im alten Stil werden immer schneller verschwinden und das nicht unbedingt zu unserer Sicherheit. Viele wurden bereits abgerissen.

Eine Bushaltestelle, vor lauter Pflanzen fast nicht zu erkennen

Ich denke, dass wir alle die eintönigen Artefakte unserer alltäglichen Umgebung für selbstverständlich halten. Und diese „Straßenmöbel“ sind sehr alltäglich.

So hoffe ich, dass mein Projekt anderen Menschen die Augen für ein Thema öffnet, das sie sonst ignoriert hätten und Bushaltestellen deshalb nun mit anderen Augen sehen.

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Dieser Artikel wurde für Euch von Martin Gommel aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

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