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03. März 2014 Lesezeit: ~9 Minuten

Yakuza

Das erste Mal sah ich ein Yakuza-Mitglied auf den Straßen von Kabukicho. Ich saß in einer Bar und trank mit meinem Bruder Malik ein Bier. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir die gleiche Vorstellung von ihnen, wie alle anderen auch: Verrückte, tätowierte Gangster, die mit Schwertern und Pistolen herumrennen und sich umbringen, wenn sie die Chance dazu bekommen.

Aber dieser Typ hatte einen Anzug an, benahm sich freundlich, direkt und selbstsicher. Er lief auf der Straße, als ob sie ihm gehören würde und Menschen verbeugten sich vor ihm. Wir liefen zu ihm und fanden heraus, dass er Souichirou hieß.

Kurze Zeit später lächelte er, als wir ihm direkt eine Frage stellten. Er war ein hochrangiger Straßenboss im Bezirk, den seine Familie kontrollierte. „Wir töten heutzutage selten.“ Man beachte das Wort „selten“.

Yakuza © Anton Kusters

Wir fragten ihn, ob es möglich wäre, ihn und die Shinseikai-Familie zu fotografieren. Er war einverstanden, darüber zu verhandeln. Schließlich dauerte es ein Jahr voller intensiver und recht schwieriger Treffen, um die Erlaubnis zu bekommen.

Im Frühling 2009 ging ich zum ersten Mal los, um sie zu fotografieren. Es stellte sich heraus, dass es eine fünf Stunden lange Fahrt zu einem Gefängnis in Niigata werden sollte, wo an diesem Tag zwei Mitglieder freigelassen würden. Und die gesamte Familie fuhr hin, um sie willkommen zu heißen.

Um vier Uhr in der Dämmerung sitze ich in dem Auto, das Nitto-san, den Senior-Boss der Familie fährt. Es ist kalt. Klein in Statur, fährt sein Blick direkt durch mich hindurch, als mich Souichirou anweist, ihn zuerst zu begrüßen.

Ich sage „yoroshiku onegai shimasu“. Verbeuge mich. Sein Händedruck ist fest. Es scheint, als ob er sofort weiß, wer ich bin und während er sich wegdreht, um sich anderen Dingen zuzuwenden, bekomme ich weitere grundlegende Anweisungen.

Was ich sagen und wo stehen soll. Souichirou übernimmt die Verantwortung und lehrt mich sowohl japanische Verhaltensweisen, als auch die der Yakuza. Ich absorbiere alles.

Yakuza © Anton Kusters

Dieser erste Morgen, auf dem Weg zum Gefängnis, markiert den Anfang eines Kennenlernens auf einer anderen Ebene als bisher. Jetzt ist alles real. Mittendrin.

Sie werden sehen, wie ich arbeite, fotografiere, nicht interveniere, mich verhalte und bewege. Zugleich werde ich spüren, was für sie angenehm ist, zu welchem Zeitpunkt Fotografieren passend ist und wann nicht.

Ich merke, dass dies ein extrem sensibler Drahtseilakt ist. Wenn ich heute zurückschaue, dann würde ich sagen, dass zehn Monate vergehen mussten, bis ich jede Situation einschätzen konnte.

Alles ist so subtil. Die Details, die ich im Augenwinkel sehen kann. Manschettenknöpfe, gepflegte Hände, perfekte Frisuren, Narben, Autos, konfektionierte Anzüge, Lederschuhe, fehlende Finger, Bodyguards, Einblicke auf Tattoos.

Yakuza © Anton Kusters

Alles schreit „Kontrolle“ und ja, wenn es so etwas wie dicke Luft voller Spannung gibt, dann ist das hier der Inbegriff davon. Und für manche gibt es diesen Ort in den Bergen, ein paar Stunden entfernt, von dem sie nicht wieder zurückkehren.

So langsam beginne ich, zu realisieren, dass Yakuza mehr eine Lebensart als irgendetwas anderes ist. Es wirkt auf mich, als ob die Jungen nach Zugehörigkeit und Bestimmung suchen, während die Senior-Bosse ihre Aufgabe darin sehen, der Gefolgschaft Werte der Yakuza einzuprägen.

Ab und zu scheinen Einzelne opportunistisch zu sein, um in der Außenwelt für positive Berichterstattung zu sorgen, aber im Großen und Ganzen kümmern sie sich selten um das, was um sie herum geschieht.

Yakuza © Anton Kusters

Die Yakuza haben es geschafft, den schmalen Grat zu gehen, der zwischen guten und schlechten Taten verläuft. Sie haben einen Pfad für sich geschaffen, der so mit Japan als Land verknüpft ist, dass es Leute gibt, die die Gesellschaft ohne Yakuza schlimmer darstellen als die mit.

Im Februar 2013 erleidet einer der wichtigsten Shinseikai-Familien-Bosse, Miyamoto-san, einen fatalen Schlaganfall. Sein Tod ist eine allen drohende Gefahr. Ich lasse alles stehen und liegen und fliege umgehend nach Tokyo. Obwohl er ein Alleingänger war, hatte ich ihn beobachtet, kennengelernt und über 12 Monate lang fotografiert.

Ihn nun in diesem Krankenhausbett zu sehen, hilflos im Koma und ohne die geringste Chance auf Erholung wirkte sehr… menschlich.

An diesem Punkt war es nicht mehr wichtig, dass er Teil der Yakuza-Familie war. Vor mir sah ich einen sterbenden Mann. Ich hielt seine Hand und erzählte ihm von der kurzen Zeit, die wir miteinander erlebt hatten.

Was, wenn er mich hören könnte?

Ich besuchte ihn drei Tage nacheinander. Am dritten Tag, morgens um 2.30 Uhr, starb er. Seine Freundin und der ältere Bruder erlaubten mir, der traditionellen japanischen Beerdigung beizuwohnen.

Yakuza © Anton Kusters

An diesem Punkt schienen alle Bilder, die ich gemacht hatte, zu intim, um sie zu publizieren. Vielleicht würde sich das mit der Zeit herausstellen. Vielleicht würden sie im größeren Kontext des Projektes ihren Platz finden.

Es war kalt an diesen Tagen, und ich hatte nicht die richtige Kleidung an.

In meinem Projekt „ODO YAKUZA TOKYA“ geht es nicht um die Taten der Yakuza. Es ist ein persönliches Testament eines extrem komplizierten Lebensstils.

Yakuza © Anton Kusters

Und obwohl das Schlechte das Gute in dieser Art zu leben bei Weitem überwiegt, denke ich, dass ich nicht in der Position bin, diese Menschen zu verurteilen. Ich denke, dass ich weiter versuchen werde, offen zu sein und mittels Einblick in flüchtige Momente wie diese so viel wie möglich über die Menschheit zu lernen.

Warum

Der Grund für dieses Projekt ist – wie immer – eine sehr persönlicher. Ich lebe in Belgien und mein Bruder in Japan. Ich suchte nach einem Projekt, das wir gemeinsam umsetzen könnten, um einen Grund zu haben, öfter nach Japan zu gehen und ihn und seine Familie dort zu besuchen.

Mein Bruder ist Marketing-Experte, ich bin Fotograf. Wir glaubten, dass eine Kollaboration möglich sei.

Eines Nachts trank ich mit meinem Bruder in Tokyo ein Bier und wir diskutierten über unser Projekt. Auf einmal kam ein Yakuza in die Bar. Wir wussten sofort, dass wir uns auf dieses Thema konzentrieren sollten.

Yakuza © Anton Kusters

Zehn Monate verbrachten wir mit Verhandlungen, um eine Foto-Erlaubnis für zwei Jahre zu bekommen.

Was mich inspiriert? Alles, was in meinem Leben passiert. Glück, Traurigkeit, kleine Dinge, die meine Aufmerksamkeit erhaschen. Mich berühren. Insbesondere andere Menschen. Nahe und weit entfernte, denn mich begeistert das Wunder der Menschheit.

Wie

Ich fotografierte stets mit dem vorhandenen Licht, intervenierte oder konstruierte nichts. Ich war wie eine Fliege an der Wand.

Yakuza © Anton Kusters

Weil das Projekt in sehr engen Räumen und an dunklen Orten stattfand und meist absolute Stille herrschte, entschied ich mich für eine leise Leica M9. Dadurch hatte ich sehr leichtes Gepäck (nur ein Body, eine Linse und eine Backup-Kamera) und war immer bereit, auch an dicht gedrängten Orten wie in Autos oder Bars zu fotografieren, ohne die Stimmung zu zerstören.

In meinem Blog findet sich eine genauere Beschreibung des Inhalts meiner Kameratasche.

Da das 35mm ƒ/1.4 mein Immerdrauf war, konnte ich mit dem vorhandenen Licht und einem extrem schnellen manuellen Fokus fotografieren. Das Potential, auf die Szenen Einfluss zu nehmen, war also deutlich reduziert.

Yakuza © Anton Kusters

In Kombination mit der Messsucherkamera (die keine Vibration eines klappenden Spiegels hat), konnte ich mit bis zu 1/15 oder gar 1/8 Sekunde meine Aufnahmen machen. Durch diese Arbeitsweise gab es häufg exakt einen einzigen perfekten Moment und in vielen Fällen habe ich diesen verpasst. Jedoch gelang es mir immer wieder, etwas „Merk-würdiges“ aufzunehmen.

Ganz oft, wenn ich ein neues Projekt anfange, lerne ich erst mit der Zeit, was die beste technische Unterstützung (lies: die beste Kamera) ist, die mir es ermöglicht, die von mir angestrebten Fotos zu machen.

Yakuza © Anton Kusters

Und wenn es notwendig ist, verkaufe ich meine komplette Ausrüstung, um das richtige Equipment für ein Projekt zu haben. Für das Yakuza-Projekt war das die Leica M9 mit einem 35mm Summilux ƒ/1.4. Im Gegensatz dazu setzte ich mein Projekt „Heavens“ mit verschieden Holga-Kameras um, die ein Polaroid-Rückteil haben.

Jedoch muss ich sagen, dass ich über das Yakuza-Projekt die Messsucher-Kamera sehr zu schätzen gelernt habe und erst einmal bei ihr bleiben werde.

Dieser Artikel wurde von Martin Gommel aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

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