© Roman Stenzel
20. Dezember 2013 Lesezeit: ~6 Minuten

Was siehst Du? Was fühlst Du?

Der Herbstwind treibt dicke Wolken über die Bergkämme der Hohen Vogesen. Das Gras ist feucht vom Nebel, im Grün des Waldes zeigen sich die ersten zaghaften Orange- und Rottöne. Die Bergketten in der Ferne verschwimmen in blauem Dunst.

Einige Farbpunkte bewegen sich suchend durch die Landschaft. Und ich bin einer von ihnen, einer der Teilnehmenden dieses Fotoworkshops in den herbstlichen Vogesen auf der Jagd nach Motiven.

Ich setze mich auf einen Stein, hole ein orangefarbenes Notizbuch und eine Schachtel Pastellkreiden aus meiner Tasche. Noch etwas zögernd versuche ich, die Szenerie vor mir mit den Wachskreiden aufs Papier zu bannen. Ich vermisse den Rahmen, den mir der Sucher meiner Kamera vorgibt. Hier muss ich plötzlich selbst entscheiden, welchem Ausschnitt meines Blickfeldes ich den knappen Platz auf dem Papier vor mir zugestehe.

Eigentlich hatte ich ja nur etwas mehr über meine Kamera lernen wollen, als ich mich aus der Schweiz hierher aufgemacht hatte. Ich wollte mich aus der Sicherheit der Automatik verabschieden und mich an das manuelle Einstellen der Kamera wagen. Und nun sitze ich hier und zermartere mir mein Hirn darüber, wie ich mit diesen dicken Kreiden diese atemberaubende Landschaft einfangen soll. Und dennoch habe ich dabei das Gefühl, dass ich nie etwas anderes wollte.

© Johannes Knorpp
 

Vor drei Tagen, am 3. Oktober, begann dieser Fotoworkshop hier auf dem Vogesenhauptkamm. Eine Gruppe von erwartungsvoll gespannten Fotobegeisterten und ein ziemlich jung-dynamisch wirkender Workshopleiter nahmen mich einfach mit auf die erste Wanderung. Ich hatte Theoriestunden im Seminarraum des Refuges erwartet.

Stattdessen wartete auf dem Rücken des Berges Hoheneck eine erste Aufgabe auf uns, die alle Teilnehmenden zu kreativen Höchstleistungen anspornte: „Ich – in den Vogesen“. Ohne Videobeamer, dafür mit mobilem Fotodrucker, konnten wir die Ergebnisse unserer Arbeit direkt auf dem Berg reflektieren – dort, wo wir die Fotos gemacht hatten.

Meine eher technischen Fragen, wie man zum Beispiel die Belichtung eines Fotos gezielt steuern kann, bekam ich so ganz nebenbei beantwortet – immer dann, wenn sie sich mir eben beim Fotografieren tatsächlich stellten. Schon am Ende des ersten Tages fotografierte ich im manuellen Modus meiner Kamera – ich, der ich mich bis vor Kurzem noch immer voll auf die Automatik oder die Kreativprogramme meiner Kamera verlassen hatte.

© Johannes Knorpp

Was aber wirklich beeindruckend war in diesen ersten Workshoptagen, ist die Selbstverständlichkeit, wie all dieses Lernen genau dort stattfindet, wo die fotografischen Probleme auftauchen: In einem düsteren Wald am Fuße des Berges, in den goldenen Stunden des nahenden Sonnenuntergangs auf weiten Bergwiesen, in den dicken und nasskalten Wolken der frühen Morgendämmerung auf dem Gipfel oder in der knisternden Spannung, als wir uns an brunftige Hirsche am Waldrand der Abenddämmerung anpirschten.

Es ist anstrengend, sich intensiv Gedanken über ein Foto zu machen, das man noch gar nicht geschossen hat. Wenn Du das, was Du siehst und fühlst, in Worte fassen sollst, ehe Du auf den Auslöser drückst. Weite – Ferne – Freiheit – den Wind im Gesicht spüren – das Gefühl, ganz tief durchatmen zu können. Und plötzlich weißt Du, was wirklich wichtig ist für Dein Foto. Nicht, weil es Dir jemand gesagt hat, sondern weil Du es fühlst.

© Johannes Knorpp

© Johannes Knorpp

Dieser Workshop ist keine „Seht-her-wie-toll-ich-fotografiere-so-müsst-ihr-es-auch-machen“-Veranstaltung eines selbstverliebten Fotografen. Niemand belehrt mich. Ich werde begleitet in meinem Lernen, bestimme selbst, wohin es geht und was für mich wichtig ist.

„Ich hab dir gleich gesagt, dass das kein Schubi-Dubi-Workshop wird, sondern dass es da richtig was zu arbeiten gibt“, meinte Amanda, die Freundin aus Zürich, die mich zu diesem Kurs überredet hatte und selbst schon das zweite Mal dabei ist.

© Roman Stenzel

Jede und jeder wird auf seine individuelle Art und Weise gefordert. Viele scheinen sich sogar genau deshalb angemeldet zu haben. Und so wird die Heterogenität dieser angenehm kleinen Gruppe zu einer echten Bereicherung dieser Tage hier in der Natur der Berge.

Wir fotografierten auf schmalen Pfaden steiler Berghänge. Wir nahmen Kühe in der Abendsonne aufs Korn und hofften, dabei nicht selbst von ihnen aufs Horn genommen zu werden. Wir fingen die ersten blauen Schimmer des Tages ein und trotzten der dunklen und wolkigen Nacht das letzte Quentchen an Restlicht ab.

„Es ist einfach Klasse, dass wir bei diesem Workshop so richtig miteinander draußen in der Natur sind!“, freut sich Christina aus Schwäbisch Gmünd und spricht damit auch mir aus dem Herzen. Und wenn Du abends zurück ins Refuge kommst und noch immer das Röhren der Hirsche im Ohr hast, weißt Du, dass es die nassen Hosenbeine wert war.

© Roman Stenzel

Auf mein Wachskreidenbild, das jetzt hier auf meinen Knien liegt, bin ich nicht gerade stolz. Etwas hölzern muten diese ersten künstlerischen Versuche seit meiner Schulzeit an. Aber diese Einschränkung meines Blickfeldes und die Reduktion auf ganz wenige, wesentliche Elemente des Bildes erweitern meinen fotografischen Horizont.

Jetzt bin ich bereit, meine Kamera auf mein Stativ zu klemmen und das Bild genau so zu machen, wie ich es gesehen und mir als Foto vorgestellt habe. Ich werde es ausdrucken und auf die gegenüberliegende Seite meines Notizbuches kleben.

Und dann werde ich stolz darauf sein, dass dieses Foto kein glücklicher Zufall ist, sondern das Resultat meiner Auseinandersetzung mit dem, was ich sah und fühlte.

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