27. November 2013 Lesezeit: ~10 Minuten

Vis-a-Vis avec les Chamois des Vosges

Ich sitze auf einem Schiff, das mich von Norwegen nach Deutschland bringt. Wieder habe ich mehrere Wochen in Norwegen verbracht, nur um eines meiner fotografischen Projekte voranzutreiben. Ich lasse es in meinem Kopf Revue passieren.

Wie arbeite ich und warum haben es mir die Gämse so angetan? Wie gehe ich an ein fotografisches Projekt heran? Und warum tue ich es? Es ist mir, als wäre es gestern gewesen. Es war im Mai. Während in meiner Heimat Saarbrücken die Frühblüher größtenteils abgeblüht waren, saß ich zwischen Schneefeldern und den ersten Osterglocken auf über 1000m Höhe und suchte nach Gämsen.

Nachdem ich ein Fotoprojekt in Skandinavien im Frühjahr abgebrochen hatte und enttäuscht nach Saarbrücken zurückgekehrt war, wusste ich nicht recht, was ich machen sollte. Ein neues Projekt musste her. Am besten nicht weit weg und mit ein paar Motiven, die man vielleicht nicht ganz so häufig sieht.

Da entsann ich mich, dass ich vor einiger Zeit von Gämsen in den Vogesen gehört hatte. Ich war in der Gegend früher oft gemeinsam mit meinen Eltern unterwegs gewesen und liebte die Berge von klein auf. Ich recherchierte im Internet und fand bereits nach kurzer Zeit die ersten interessanten Amateurfotos, die darauf hindeuteten, wo ich etwa anfangen musste zu suchen.

© Radomir Jakubowski© Radomir Jakubowski

So begab ich mich ein paar Tage später das erste Mal in die Vogesen, um mir ein Bild von der Region zu machen. Natürlich wusste ich nicht, was mich erwarten würde. Ich packte meine gesamte Outdoorausrüstung ein, vom Gaskocher über Fertignudeln bis zum Schlafsack. Letzterer würde mir noch sehr gute Dienste leisten, was mir vor dem ersten Trip so noch nicht klar war.

Was die Gämsen betrifft, so wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehr viel über das Verhalten der Tiere und ihre Lebensbedingungen in den Vogesen. Die Vogesen sind ein Mittelgebirge in Ostfrankreich.

Sie sind mit dem Pfälzerwald, der sich nördlich der französischen Grenze ohne morphologische Trennung anschließt, Teil eines einheitlichen Mittelgebirgsraumes von etwa 8000km² Gesamtfläche. Mein Ziel war die Region um den Ort Gérardmer. Hier erheben sich einige der höchsten Berge der Vogesen.

Ich war mir nicht sicher, ob und wo ich die Gämsen finden würde und so fing ich einfach an, die Region zu bewandern. Ich begab mich auf die Suche, um bald darauf zu merken, dass ich mit Mitte Mai fast zu früh dran war. Es gab noch zahlreiche Schneefelder um die Berggipfel herum und die Osterglocken und Brockenanemonen blühten erst auf.

© Radomir Jakubowski

Der Balzgesang der Heidelerche sowie des Wiesenpiepers begleitete jede meiner Wanderungen und so schön die Frühlingsstimmung auch war, so kalt waren die Nächte. Sogar tagsüber kletterte das Thermometer auf nicht mehr als 6 – 8 °C, der starke Wind führte zusätzlich dazu, dass ich so manches Mal die „Blümchenfotografen der Täler“ beneidete.

Auf Grund des sehr starken Windes errichtete ich mein Nachtlager im Windschutz des Waldes, was Angesichts der Baumgrenze, die bis knapp unter die Gipfel reicht, kein Problem war. Neben den temperaturbedingten, widrigen Bedingungen nachts, gestaltete sich auch die anfängliche Suche nach den Gämsen der Vogesen als sehr schwierig.

Nach den ersten zwei Tage hatte ich immer noch keine einzige Gams gesehen und hätte ich nicht eindeutige Spuren gefunden, so wäre mir ein Vorkommen von Gämsen in dieser Region mehr als unwahrscheinlich erschienen. Nach langen Wanderungen und so mancher Enttäuschung hatte ich am dritten Abend nun endlich das Glück, zwei Gämsen zu sehen, die sich hangaufwärts in Richtung des Gipfels bewegten.

Ich verhielt mich sehr vorsichtig, da ich diese mir gebotene, erste Chance auch direkt nutzen wollte. Ich wartete und ließ die Gämsen auf mich zu kommen und so geschah es, dass ich an diesem Abend tatsächlich meine ersten französischen Gämsen im Abendlicht fotografieren konnte.

© Radomir Jakubowski

Der Morgen danach reihte sich lückenlos in die erfolglosen ersten Tage ein, sodass ich wieder kein einziges Tier sah. Ich beschloss, abzureisen und kehrte zu meiner Heimatstadt Saarbrücken zurück. Immerhin wusste ich nun, dass ich die Tiere in den Vogesen finden konnte und nach den ersten brauchbaren Fotos war ich ganz heiß darauf, noch mehr Fotos machen zu können. Das war der Moment, in dem ich spürte, dass dies mein nächstes Fotoprojekt werden würde.

Zuhause angekommen, begann ich sofort, mir Wissen über die Gämsen anzulesen. Jagdbücher und Naturführer wurden zur Hand gekommen und gelesen, denn ich wusste, dass ich nur zu guten Fotos kommen würde, wenn ich auch über das Verhalten der Tiere informiert wäre. Ich lernte, dass es wenig Sinn ergab, über die Bergkämme zu wandern und zu hoffen, dass eine Gams mal im Abend- oder Morgenlicht posierte.

Viel mehr musste ich lernen, dass die Tiere fast vorwiegend in den bewaldeten Hängen unterwegs waren. Gerade, wenn der starke Wind über die Berge bläst, bleiben die Tiere lieber in den Wäldern. Überhaupt gewann ich das Gefühl, dass es in den Vogesen niemals windstill ist und in den mittlerweile einigen Monaten die ich in den letzten zwei Jahren in den Vogesen verbracht habe, waren nur ein paar halbwegs windstille Tage dabei.

Morgens konnte man die Gämsen oft noch auf den Hochebenen finden, aber wenn tagsüber das Menschenaufkommen zunahm, verzogen sich die Tiere immer weiter ins Tal und die Wälder, bis sie in der Zeit der Sommerferien letztendlich kaum noch auf den Hochebenen anzutreffen waren.

© Radomir Jakubowski

Somit habe ich mit der Zeit umdisponiert und wollte die Gämsen in ihrem natürlichen Lebensraum dokumentieren. Dies sind in den Vogesen neben den Hochebenen vor allem die Wälder und das verbuschte Gebiet zwischen Hochebene und Wald. Ich hatte die Hoffnung, ein paar andere Bilder machen zu können, als die Gamsfotos auf den Gipfeln der Hochgebirge, die man sonst häufiger zu sehen bekommt.

Dies wurde jedoch schwieriger als gedacht, da es eine ganze Reihe von Hindernissen gab. Auf der einen Seite hat man in den Wäldern kaum einen Überblick und auf der anderen Seite sind die Wälder so nah an der Baumgrenze nicht wirklich fotogen. Oft habe ich die Tiere von den Gipfeln aus gesichtet und habe dann den Abstieg zu ihnen gewagt in der Hoffnung, dass sie sich in die Richtung bewegen würden, die mir zupass kam.

Dabei stellten nicht nur die Gämsen mit ihrem hervorragenden Geruchssinn eine Schwierigkeit dar. Auch das Gelände unterhalb der Gipfel, das von schwer passierbaren Sumpfgebieten gekennzeichnet ist, machte das Anpirschen mühsam und gefährlich.

Mir fiel auf, dass die Gämsen teilweise sehr scheu reagierten, wenn Menschen auf Wanderwegen unterwegs waren. Hielt man sich hingegen auf den Wildpfaden der Gämsen oder im Gelände auf, war dieses Verhalten weit weniger ausgeprägt.

© Radomir Jakubowski

Ich nutzte also fortan oft die schmalen Wildpfade der Gämsen und bewegte mich ruhig und vorsichtig auf sie zu. Nach einiger Zeit störten sich die Tiere so gut wie überhaupt nicht an mir, sodass ich mich sogar den Jungtieren bis auf wenige Meter nähern konnte. Ich genoss die Zeit zwischen den Tieren und sie faszinierten mich manches Mal so sehr, dass ich das ein oder andere Mal schlichtweg vergaß, auf den Auslöser zu drücken.

Ich habe in meinem Kopf noch sehr viele Gamsfotos, die ich noch nicht machen konnte, entweder weil ich bestimmte Verhaltensweißen bis heute nur beobachten, aber nicht fotografieren konnte oder weil die Witterungsbedingungen noch nicht gestimmt haben. Eines ist mir aber klar: Ich werde noch viele Tage und Nächte dort verbringen, in den Bergen, bei Wind und Wetter, bei den Gämsen der Vogesen.

~

In diesem Artikel habe ich meine Herangehensweise an ein fotografisches Projekt beschrieben. Viele mögen jetzt anmerken, dass der Aufwand, den ich betreibe, sehr hoch ist. Doch es ist für mich als Naturfotograf nicht nur das Bild, das am Ende zählt; nein, ich genieße jeden Moment und jede Strapaze in der Natur und stecke mein ganzes Herz in die Fotografie.

Für mich kann der Hintergrund für eine solche Arbeit immer nur die Faszination für die Natur, für eine Art, eine Gattung oder eine Region sein, denn nur dann bin ich bereit, hart daran zu arbeiten. Solltest Du selbst ein Projekt planen, beachte folgende Punkte:

© Radomir Jakubowski

Wichtig ist, dass Du Dir ein Projekt aussuchst, dass Du regelmäßig betreuen kannst. Probiere, neue Sichtweisen zu zeigen. Lass Dich von Rückschlägen nicht entmutigen und versuche, alle Facetten Deines Projekts in Deinen Bildern darzustellen.

Es geht nicht ausschließlich um schöne Bilder. Du solltest alles dokumentieren, was für Dich charakteristisch ist. So besitze ich beispielsweise sowohl Detailfotos der Hufe einer Gams, als auch der Abdrücke der Hufe im weichen Boden, aber auch Paarungs-, Säugungs- und Brunftszenen.

Erst, wenn Du Dich mit Deinem Projekt intensiv auseinandergesetzt hast und glaubst, Du hast möglichst alle Facetten einer Art beleuchtet und fotografisch erfasst, kannst Du sagen, dass Du ein fotografisches Projekt erfolgreich abgeschlossen hast.

Wobei auch das ein Trugschluss ist, da Du immer wieder neue Dinge entdecken wirst, die Dein Projekt stetig wachsen lassen werden. Denn zumindest ich kann mich von einem Projekt nie ganz verabschieden, sondern probiere immer wieder ein paar Tage im Jahr, an alten Projekten zu arbeiten. Es ist stets aufs Neue wie ein „nach Hause kommen“ und es macht Spaß, wieder an alten Projekten zu arbeiten.

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