16. August 2013 Lesezeit: ~9 Minuten

Ein Jahr iPhone statt Kamera

Das iPhone als Kamera: Mein Jahresprojekt mit dem iPhone ist zu Ende. Vor zwölf Monaten hatte ich beschlossen, meine „echte“ Kamera (die EOS 5D) mal zur Seite zu legen und dafür nur mit dem iPhone zu fotografieren. Heute schließe ich dieses Projekt ab und schreibe darüber, was ich aus dieser Zeit gelernt habe.

Eigentlich ist mein Projekt erst am 9. September zu Ende. Da ich aber ungefähr einen Monat vor der offiziellen Ankündigung schon begonnen hatte und etwas verfrüht zu einer neuen Kamera gekommen bin, dachte ich, Martin, jetzt ist auch mal langsam gut.

Immer wieder sind im vergangenen Jahr Leute zu mir gekommen und meinten, dass sie meine Entscheidung „krass“ fänden. Ein Monat mit dem iPhone, ja, klar, kann man machen. Aber gleich ein ganzes Jahr?

Für mich fühlte sich das gar nicht krass an. Ich bin ein Mensch, der sich gern in eine Sache voll und ganz einarbeitet, um hinterher auch etwas davon zu haben. Ein Monat klingt nett, aber wenn ich in dem Monat ein paar Mal fotografieren gehe, was habe ich dann davon? Nicht so viel. Deshalb war die Entscheidung für mich stimmig. Und wichtig.

Über das Jahr hinweg habe ich bemerkt, wie entscheidend das Auftreten des Fotografen auf der Straße ist. Komme ich mit einer Riesenkamera auf Leute zu und mache unglaublich professionell wirkende Verrenkungen, kann ich das mit dem „unauffälligen“ Fotografieren vergessen.

Bin ich aber dezent schwarz angezogen und benehme mich so, als wäre ich wie jeder andere nur mal eben in der Stadt, werde ich fast nicht wahrgenommen. Kommt dann obendrauf noch eine Kamera ins Spiel, die als solche nicht profi-verdächtig aussieht, dann fühlen sich Menschen nicht bedroht. Sie verhalten sich natürlich.

Sunny © Martin Gommel

Das iPhone als solches ist für diesen Zweck perfekt. Es liegt gut in der Hand und es ist das Normalste auf der Welt, draufzugucken – schließlich machen das viele andere auch. Das Smartphone ist Teil unseres Aussehens geworden und wird daher nicht als Kamera identifiziert. Zumindest nicht in seiner primären Destination.

Und die ist in meinem Fall, Menschen so aufzunehmen, dass sie sich nicht des Bildes wegen in ihrer Gestalt und Mimik verändern. Denn es ist ein psychologisches Gesetz, dass wir uns, sobald wir wissen, dass uns jemand anschaut, verändern.

Und somit war schnell klar, dass ich nach meinem Projekt nicht mit der 5D wie zuvor in der Stadt fotografieren würde. Dahin gab es dann kein Zurück mehr.

Desweiteren habe ich im Bezug auf die Fotografier-App nach acht Monaten einen Wechsel vollzogen. So lange hatte ich mit ProCamera gearbeitet, doch als ich sah, was Camera+ kann, wollte ich dessen Vorzüge direkt nutzen.

Denn: In Camera+ ist es nicht nur möglich, die Belichtung getrennt von der Schärfe zu steuern, sondern auch getrennt zu speichern. Das heißt: Ich setze per Hand die Belichtung beispielsweise auf den Himmel, so wird das Bild insgesamt etwas dunkler und ich vermeide Ausrisse in den Spitzlichtern.

Dann speichere ich das auf dem kleinen Schloss-Icon, lasse das Fokus-Icon aber konstant offen. So habe ich immer die gleiche Helligkeit, kann aber dann vor Ort die Schärfe einfach dorthinsetzen, wo ich sie brauche. Beispielsweise auf das Gesicht eines Mannes oder auf eine Menschengruppe weiter hinten.

Sleep ©  Martin Gommel

Je länger ich die DSLR vergaß, desto weniger vermisste ich sie. Ich lernte, das iPhone einzusetzen, wo es einzusetzen ist. Doch das hatte viele Grenzen.

In komplexen Lichtsituationen? Nur vorgespeichertert mit Unterbelichtung. Nachts? Kaum. Jemanden beim Rennen fotografieren? Nur bei strahlender Sonne oder wenn ein Mitzieher gelingt. In Gebäuden Menschen fotografieren, ohne zu verwackeln? Nur bei hauseigener Beleuchtung. Im Winter Menschen halbwegs scharf fotografieren? Bei bedecktem Himmel keine Chance.

Zwar wurde mir in den Mund gelegt, dass ich mit dem Projekt beweisen wollte, dass die Ausrüstung völlig egal ist, aber eines ist klar: Wenn das iPhone abends nichts mehr erkennt, dann ist Ende Gelände. Nichts geht mehr.

Ich bin nach wie vor der Meinung, dass der ganze Technikkram in der Fotoszene komplett überbewertet ist und dem kollektiven Schwanzvergleich dient, aber egal ist die Technik für mich nicht. Beispiele?

Wenn es um die direkte Umsetzung spezifischer Vorstellungen geht, spielt die Technik insofern eine Rolle, dass sie einen Rahmen setzt. Und mit dem iPhone sind bestimme Dinge möglich, andere nicht. Ich kann gut auf der Straße Leute fotografieren, aber Hochzeitsfotos mit superkrassem Bokeh oder feindetaillierte Sport-Aufnahmen sind einfach nicht drin.

Auch, wenn es möglich ist, sich im Nachhinein mit diversen Apps wie tadaa zu helfen. Aber eine sensorbedingte Bewegungsunschärfe wird durch keine App zum knackscharfen Portrait, auf dem man die Härchen zählen kann. Das ergibt folgendes Szenario:

Die Tatsache, dass es sich beim iPhone um einen verhältnismäßig kleinen Sensor handelt (Technik), gibt vor, was ich mit der Kamera an Projekten und Genres (Kreativität) bedienen kann.

Und damit haben wir nur eine Variable im großen Apparaturkomplex behandelt. Ganz zu schweigen von der Bedienungssoftware über die Objektivqualität bis hin zur Abbildungsleistung. Und und und. So wäre es kompletter Bullshit, zu behaupten, dass jeder mit dem iPhone gute Bilder machen kann. Denn es kommt ganz auf das Einsatzgebiet und die Vorgaben an.

FernWärme  © Martin Gommel

Ich habe die Grenzen des iPhones ausgelotet und so viel herausgeholt, wie möglich. Heißt: Täglich raus auf die Straße und probieren, probieren, probieren. Und das macht – wenn man erst einmal den engen Rahmen akzeptiert hat – eine Menge Spaß. Denn so musste ich mir keine Gedanken darum machen, was alles in meine Fototasche müsste, denn das iPhone hatte ich sowieso stets dabei.

Kein Rumgeschleppe diverser Wechselobjektive und kein Speicherkartengefuddel. Eines nahm ich jedoch immer mit: Einen USB-Zusatzakku, der mir in vielen Situationen ermöglichte, weiter zu fotografieren.

Was habe ich also den Lesern zu sagen außer, dass es sich für mich gelohnt hat? Welche Erkenntnis des Projektes könnte auch anderen etwas bringen? Vielleicht eine: So, wie andere es als Genugtuung empfinden, analog zu fotografieren und damit gezwungen zu sein, über jedes Bild nachzudenken, so kann ich darauf schwören, dass die Begrenzung auf ein Minimum, und sei es das iPhone, viele, viele Vorteile mit sich bringt.

Wer schon exakt und auf den Pixel genau weiß, wohin die Reise gehen soll, kann getrost die Finger davon lassen. Wer jedoch noch nicht so genau weiß, wohin mit sich und der Kamera, darf das ja mal ausprobieren. Es muss ja nicht gleich ein ganzes Jahr sein.

~

Wenn ich mir nun diese Fotos so ansehe und mir bewusst wird, dass das iPhone-Projekt abgeschlossen ist, spüre ich Wehmut. Es war eine gute Zeit, auf die ich mit Stolz und Freude zurückschaue. Ich habe durch das Projekt einen ordentlichen Schub nach vorne bekommen und konnte im Genre der Straßenfotografie um einiges sattelfester werden.

Es folgt eine Auswahl der mir wichtigsten Fotos des vergangenen Jahres. Diese zu treffen war – wie zu erwarten – schwer, aber ich habe mich durch meine über 1000 finalen Fotos gewühlt und diese herausgesucht.

I love you  © Martin Gommel

Aus meinem Experiment mit Langzeitbelichtungen. Nach wie vor eines meiner Favoriten und ich kann mir gut vorstellen, mal wieder so eine Reihe (nicht mit dem iPhone) zu fotografieren.

Speedyspeedy  © Martin Gommel

Family  © Martin Gommel

Dog  © Martin Gommel

Die beiden oberen Fotos stammen von einer Oldtimer-Parade, auf die ich zufällig hier in Karlsruhe stieß. Ich hatte Glück – und gutes Licht.

Cement  © Martin Gommel

The King  © Martin Gommel

Scratches  © Martin Gommel

This is a flower  © Martin Gommel

Eines meiner witzig-komischsten Fotos. Die Dame kratzte sich am Rücken und zeigte dabei ungewollt auf die Blume. Ich machte ein paar Fotos und entdeckte mein Glück erst später.

Phone  © Martin Gommel

Erm  © Martin Gommel

Noch einmal Glück: Der Betrachter wird hier irritiert, da der Arm mit den Blumen nicht zu dem muskolösen Mann gehört. Geplant war die Aufnahme nicht auf diese Weise, aber ich wollte die beiden irgendwie draufbekommen.

Oben gut drauf  © Martin Gommel

Merveille  © Martin Gommel Leggies  © Martin Gommel

OK!  © Martin Gommel

Open  © Martin Gommel

Diese Frau sah ich von Weitem irgendwie seltsam daherlaufen und machte mich bereit, ihrem komischen Gang mit einem Foto auf die Schliche zu kommen. Dass sie ihre Zehennägel auch noch in gleicher Farbe wie die Hose lackiert hatte, machte den Moment perfekt.

Music  © Martin Gommel

The Big One  © Martin Gommel

Taptap  © Martin Gommel

Phony  © Martin Gommel On a way  © Martin Gommel

Abfahrt  © Martin Gommel

Abo  © Martin Gommel

Urban Landscape  © Martin Gommel

Push  © Martin Gommel Daughter  © Martin Gommel

Meine Tochter stand im Hof, schaute nach oben zu mir. Ich war schon die Treppe hochgelaufen und machte auf gut Glück ein paar Aufnahmen. Eine davon gelang.

Flowers © Martin Gommel

Hurry  © Martin Gommel

Cigarette  © Martin Gommel Summer  © Martin Gommel

So. Und jetzt wird erst einmal fotografiert. Und zwar mit meiner „Neuen“, der Fuji x100s, die nach diesem Jahr Beschränkung eine wahre Traumkamera ist. Wer will, darf mir gern auf Tumblr folgen, denn dort zeige ich wie immer die jüngsten Ergebnisse.

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