16. Juli 2013 Lesezeit: ~5 Minuten

Dokumentierte Inszenierung und inszenierte Dokumentation

Vielleicht liegt es daran, dass mein ursprünglicher beruflicher Hintergrund mit dem Schreiben und mit Literatur zu tun hat (und eine gängige Einteilung von Texten „fiktional“ und „nichtfiktional“ ist), aber in meinem Kopf sortiere ich meine Fotografie schon seit längerer Zeit nicht mehr in irgendwelche Genres, die mit dem Motiv des aufgenommenen Bildes zu tun haben, sondern zunächst in die beiden Kategorien „Dokumentation“ und „Inszenierung“.

Die beiden Kategorien scheinen mir als Einordnungskriterium für jede Art von Lichtbild deutlich schlüssiger als „Makro-“, „Straßen-“ oder „Menschenfotografie“, also jene Art von Schubladen, die entweder vom Motiv oder der technischen Herangehensweise an das Bild ausgehen.

In meiner Unterscheidung komme ich von meiner Arbeitsweise, als vom Fotografen: Will ich etwas dokumentieren, will ich also die Wirklichkeit möglichst originalgetreu festhalten, ohne selbst in die Szene einzugreifen oder will ich selbst eine Wirklichkeit erschaffen und diese inszenierte Welt abbilden?

Das ist für mich die wichtigste Frage, wenn ich fotografiere. Es sind zwei Herangehensweisen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und sich maximal auf meine Arbeitsweise auswirken: Im ersteren Fall bin ich Beobachter der Welt, der mit einer Kamera ausgerüstet durch sie hindurch läuft, nach Motiven sucht und versucht, seine Entdeckungen auf eine spannende Art einzufangen und zu portraitieren, im zweiten Fall selbst Erschaffender, Künstler, der Dinge auswählt, neu zusammensetzt und inszeniert und diesen Prozess schließlich dokumentiert.

Natürlich sind auch bei dieser Form der Einteilung die Grenzen sehr fließend und wie so oft sind es gerade die Grenzfälle, die besonders spannend sind: Es sorgt für Irritation, wenn man dort dokumentiert, wo eigentlich Inszenierung die Regel ist, wie ich beispielsweise in den Kommentaren zu verschiedenen Straßenfotografie-Artikeln immer wieder feststelle.

Menschen müssen inszeniert abgebildet werden, so lautet der Konsens. Das Gegenteil gilt in weiten Teilen für Natur- und Reisefotografie, bei vielen Wettbewerben ist es geradezu verboten, selbst mit seinen Motiven zu interagieren und die Wirklichkeit dadurch zu verändern. Hier ist die Dokumentation der Standardfall und wenn man dagegen verstößt, produziert man im Zweifel einen kleinen Skandal.

Künstlerische Fotografie wird wiederum generell mit Inszenierung assoziiert, mindestens technischer Art (das Paradebeispiel sind die berühmten verwackelten, grobkörnigen Schwarzweißbilder, die die Foto-Technikfreaks immer belächeln). Konzert- und Eventfotografie beschäftigt sich schließlich mit der Dokumentation von Inszenierungen.

Die Technik spielt in einer solchen Dichotomie natürlich eine große Rolle, sie ist gar eine zweite Ebene, auf der entweder dokumentiert oder inszeniert werden kann: Gebe ich das Bild in den Farben wieder, die auch das menschliche Auge wahrnimmt oder nicht?

Und was passiert eigentlich, wenn ein Bild aus einer völlig unnatürlichen Perspektive aufgenommen wird, per Ultraweitwinkel und/oder mit stark das Bild beeinflussenden Filtern? Ist das noch dokumentarische Fotografie? Oder verfremdet es alles schon zur Inszenierung, weil es einen Blickwinkel zeigt, der für uns als Mensch mit unserem biologischen Wahrnehmungsapparat nicht zu erkennen ist? Die gleichen Fragen gelten analog für Highspeedaufnahmen und Lupenobjektive.

Die Frage, die man mir zu dem Bild, aus dem ein Ausschnitt über dem Artikel zu finden ist, einige Male gestellt hat, war: „Hast Du die beiden Schnecken aufeinander gesetzt?“ Die Antwort ist: „Nein, ich fand die Szene wirklich so vor“, aber ich lese aus der Frage, genau wie aus den Diskussionen über Streetfotos und den schier endlosen Streitereien über Bildbearbeitung, dass ich nicht der Einzige bin, der die Unterscheidung in diese beiden Kriterien vornimmt, dass viele Menschen Fotografie ebenfalls unbewusst so einzuordnen scheinen.

Gerade diese unausgesprochenen Gesetze zu brechen und darüber nachzudenken, was man eigentlich gerade tut, wie man als Fotograf mit seinem Bild umgeht und ob das auch auf eine andere Weise möglich wäre, erscheint mir sehr wichtig, denn an genau diesen Übergangsstellen verhindern unausgesprochene, aber verinnerlichte Dogmen oft innovative Ideen, wie man in den seitenlangen und niemals zielführenden Diskussionen in Fotoforen beobachten kann:

Viele lehnen reflexhaft das ab, was nicht in den Bereich fällt, in dem sie selbst aktiv sind. Der Naturdokumentar kann mit Fotomanipulationen nichts anfangen, der Kunst-Fotograf mit absichtlich verwackelten Schwarzweißbildern aus der Lomo lächelt über die detailversessene Präzision technischer Sportfotos, aber selten denken die beiden Gruppen darüber nach, was sie voneinander lernen und übernehmen könnten, wenn sie die gegenseitigen Herangehensweisen schätzen und verstehen würden. An den Stellen, an denen man in der Lage ist, sich von hergebrachten Schubladen zu lösen und Dinge anders zu denken, lauert irgendwo das Neue.

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