30. Mai 2013 Lesezeit: ~21 Minuten

Fantastische Bildbände zur Straßenfotografie, Teil 2

Ich war überrascht, als Martin mich bat, ein paar Zeilen zu Büchern meiner kleinen Sammlung zu schreiben. Das mache ich, denn ich rede leidenschaftlich gern über Fotografie und ebenso über Bücher.

 Fotobücher waren und sind für mich ein wesentlicher Bestandteil meiner persönlichen Entwicklung. Ich recherchiere und lerne an ihnen, weil editierte und sequenzierte Arbeiten von bedeutenden Personen der fotografischen Geschichte mir stumme Lehrmeister sind.

Einen Vorteil sehe ich darin (in unserer kurzweiligen Zeit, in der es für Fotografen zunehmend schwerer wird, bei bedeutenden Verlagen ein Buch zu bekommen), dass Bücher Resultate langer Reflexionen sowie intensiver Arbeit sind und dass diese eigenständige Qualität auf Papier zu sehen ist.

So muss ich (eigentlich) nicht auf die Suche gehen, ob das, was ich mir anschaue, wirklich etwas leistet, so kann ich einer Entdeckungsreise freien Lauf lassen. Soll nicht bedeuten, dass ich unkritisch jedem Buch gegenüber stehe, jedoch hilft ein wenig Leichtfertigkeit, viele unterschiedliche Charakteristika der Fotografie zu erforschen.

Es gibt immer und überall Einzelbilder, die beim ersten Anblick wahrlich fesseln, die so bindend sind, als ob neben ihnen nichts existieren könne. Ich denke da zum Beispiel an Kevin Carters Bild eines sterbenden Mädchens im Sudan, das als Mahl in spe geduldig von einem Geier bewacht wird.

Solch eine inhaltliche Stärke, solch eine Präsenz haben bei Weitem nicht alle Bilder, auch nicht in den besten Büchern. Jedoch entwickeln viele Bilder in Büchern eine weit tiefergehende Qualität als es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Diese Bilder geben meist Zeugnis von der Beobachtungsgabe und der Sensibilität der jeweiligen Fotografen und zeigen mir im Umkehrschluss, auf was ich in der Gesamtheit eines Projektes zu achten habe.

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Miroslav Tichý, Miroslav Tichý*

Miroslav Tichý

Seit meiner späteren Jugend habe ich einen guten Freund namens Jürgen, ein passionierter, geschichtsfester Sammler von Kunst und Literatur, der stets den Blick auf Sonderbares gerichtet hat. Seine Spielwiese ist nicht die Fotografie, aber unser Austausch war und ist immer noch sehr rege, hitzig diskutieren und streiten wir, meist ist es inspirativ.

Er erzählte mir vor etwa zehn Jahren von einem Fotografen, der eigentlich Maler sein wolle. Er lebe wohl in einem kleinen tschechischen Dorf, sähe aus wie das Paradebeispiel des Vagabunden aus gruseligen Kindergeschichten und habe sich aus Brillengläsern, Klorollen, Kronkorken, Klebeband und allerlei anderem Müll funktionierende Kameras zusammengebaut.

Damit sei er durch sein Dorf gezogen, habe Frauen in allen erdenklichen Posen abgelichtet, sei oft mit der Polizei aneinander geraten und habe sogar eingesessen. Seine Fotografien würde er auf selbstgebaute Papp-Rahmen kleben und sowohl die Rahmen als auch die Bilder bemalen.

Man habe ihn erst kürzlich entdeckt und dabei ein Meisterwerk gefunden. Er hieß irgendwas mit „Tisch“, soviel hatte ich mir gemerkt. Ich fand das damals spannend und forschte nach, fand den richtigen Namen, Miroslav Tichý, viel mehr jedoch nicht, denn viele Informationen gab es damals nicht.

Erst Jahre später stolperte ich wieder über Tichý, als Worldstar erschien. Eine umfassende Situationsbeschreibung seiner Person und seines Schaffens, die er so offenbar nicht wirklich wollte. Einen interessanten Bericht und mehr Hintergrundinfos findet Ihr hier.

Nun konnte man auch viele Bilder im Internet finden. Ab der ersten Fotografie, die ich von ihm sah, war ich begeistert. Wie Martin Walser es süffisant in „Ein fliehendes Pferd“ in Worte fasste, so treffend fotografierte Tichý „seine“ Frauen: Ein Blick von der Seite, ein kurzes Aufschauen, die Gunst unbeobachtet, unbemerkt zu voyeurieren.

Stets lang genug schauen zu dürfen, um sich alles ausreichend einzuprägen. Kennt das jemand? Männer wohl eher als ihre Frauen, mag ich wetten. Sehnsüchte, Romantik und Erotik in grauem Alltag zu entdecken, um dann den eigenen, verschüchterten Blick mit aufs Papier zu transportieren, das finde ich schlicht gesagt genial: Tichý.

Miroslav Tichý

Das Buch Miroslav Tichý* habe ich für einen Spottpreis erst 2012 aus der Ausverkaufslage der Art Cologne bekommen. Heute zahlt man etwa 60 – 70 €, Tendenz vermutlich steigend, was ich für ein gutes Buch der Firma Steidl immer noch nicht zu viel finde. Ich möchte gar nicht so sehr auf die Beschaffenheit eingehen, nicht das Layout erörtern.

How to make a book with Steidl ist der passende Film, um Steidls Passion zu erkennen und zu spüren, dass in jedem Buch auch dessen Geist zu finden ist.

Der Herausgeber zeigt auf über 320 Seiten neben etlichen Seiten informativem Text, den man nicht unreflektiert „fressen“ sollte, nicht nur viele von Miroslav Tichýs Fotografien, sondern auch Zeichnungen und einige Bilder von ihm selbst.

Alles in gewohnt brillianter Abbildungsqualität. Zudem riecht das Buch wie ein Buch riechen muss: Nach Papier und Druck – und fühlt sich toll an. Eigenschaften, die mir persönlich viel geben. Vergebt mir meine Zurückhaltung in den Details: Ich möchte nicht verraten, ob der Gärtner der Mörder ist, sondern die Neugier auf die Geschichte wecken – diese Reise solltet Ihr selbst antreten und Tichý ist diese Reise wert.

Dieses Buch hat mich gelehrt, meine persönliche Sicht, mein persönliches Empfinden mit in meine Fotografie einfließen zu lassen, denn an persönlicher Note fehlt es ach so vielen Bildern. Tichýs Bilder sind alles andere als perfekte Fotografien, jedoch stets erkennbar seine und allein mit dem Gedanken, dass er die frühe Trennung von seiner Jugendliebe womöglich nie richtig verkraftet haben mag, les- und verstehbar.

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Friedrich Seidenstücker, Von Nilpferden und anderen Menschen*

Friedrich Seidenstücker, Von Nilpferden und anderen Menschen

Nicht weniger eindrucksvoll empfinde ich die Arbeiten von Friedrich Seidenstücker. Da verweisen doch alle auf den unglaublichen Humor des Magnum-Fotografen Elliott Erwitt, doch gab es da diesen Berliner Kautz, der bereits in den 1920er Jahren einen Spaß an den Tag legte, der bis heute nichts an Wirkung und Spritzigkeit verloren hat.

Schon am Titel des Buches – „Von Nilpferden und anderen Menschen“ – wird schnell klar, dass Seidenstücker frischen Wind in die damalige fotografische Szene brachte. Eine kleine Anekdote möchte ich gern erzählen, die zeigt, wie zeitlos Seidenstückers Bilder eigentlich sind:

Ich war mit meinem damals 9-Jährigen auf der Vernissage von Renate Grubers „Thank you, Darling“, die „Schätzchen“ aus der lange verkannten Sammlung ihres verstorbenen Mannes zeigte und zum Verkauf anbot.

Zwei offenbar gut betuchte, ältere Herrschaften sinnierten über ein Bild und mein Sohn, frech wie er ist, sagte: „Das ist was Besonderes – Berliner Zoo, Seidenstücker – nur anschauen, nicht anfassen!“ Deren Kinnladen sanken rasch und hörbar herunter.

Friedrich Seidenstücker, Von Nilpferden und anderen Menschen

Dass die Arbeiten Seidenstückers etwas Besonderes sind, wird schon im Vorwort des Buches deutlich betont. Ich fühle mich geneigt, Textpassagen eins zu eins zu übernehmen, da die Formulierungen der begleitenden Texte des Buches so schön präzise sind. Die Arbeiten Seidenstückers werden als „kollektives Gedächtnis“ bezeichnet, da er als Sonderling der damaligen Berichterstattung polarisierte, den Menschen eine offene Sicht der Dinge gewährte, ohne den nötigen Ernst zu verlieren.

Nicht zuletzt beeindruckt und inspiriert er mich dadurch, dass er sowohl den Drang verspürte, den Menschen einen nüchternen Eindruck über die Geschehnisse der Zeit zu vermitteln – seinen Trümmerfotografien oder den Streifzügen durch Berlin muss man Klarheit und Sachlichkeit bestätigen – als auch die spaßverliebten Bilder aus dem Berliner Zoo zu zeigen, deren Freude am Fotografieren als Virus auf einen selbst überzuspringen versucht.

Sogar die Aktfotografie Seidenstückers birgt eine gesunde Naivität, die mehr die freudige Prozedur des Schaffens beschreibt und deren Ergebnisse spontaner und erfrischender wirken als so viel Schund, den ich heutzutage ertragen muss.

Ich bewundere die Vielfältigkeit Seidenstückers, die sich grundlegend am Leben eines „normalen“ Menschen orientiert und die sich positiv abhebt von den Privilegien, die zeitgenössische (Presse-)Fotografen haben, die eine gute Basis oft schon rein des Jobs wegen in den Schoß gelegt bekommen.

Dies soll kein Angriff sein, ich möchte die Qualität ihrer Arbeiten daduch nicht schmälern wollen. Wen aber interessieren die Ereignisse der Nachbarschaft, wenn in Boston eine, nein, sogar mehrere Bomben hochgehen? Es ist eine ewige Diskussion, bei der Seidenstücker beweist, dass man nicht in die große weite Welt hinausziehen muss, um interessante Dinge zu entdecken.

Friedrich Seidenstücker, Von Nilpferden und anderen Menschen

Appollinaire hätte nie über Bennerscheid geschrieben, wenn es ihn nicht für ein Jahr in die Provinz nahe Bad Honnef gezogen hätte. 

Was mir bei Seidenstücker ebenfalls immer wieder besonders auffällt und nicht minder charakteristisch erscheint, ist seine präzise Bildgestaltung.

Als Art Director kam ich nicht umher, mich intensiv mit Gestaltungslehre, sprich Raumaufteilung und Gestaltungsrastern, zu beschäftigen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Herr Seidenstücker ähnlich theoretisch unterwegs war, aber seine Bilder passen durch die Bank weg in die einst gelernten Formeln.

Ich bewundere dessen Genialität, die mir stets beweist, dass neben inhaltlichen Qualitäten auch ein intuitives Gespür für Formales und Ästhetik plausibel und vor allem nötig für gute Bilder ist.

Jetzt habe ich mich wieder verleiten lassen, eher die Neugier auf die Person zu lenken, denn das Buch zu beschreiben. Aber ich fühle mich gut dabei, denn das ist es, was mich stets treibt. Zum Einen das Interesse an den Geschehnissen meiner Umgebung – egal wo ich mich befinde oder wo ich hingeführt werde – zum Anderen das Interesse an der reichhaltigen Qualität des Gedankenguts einzelner Menschen.

Eigentlich ist es egal, ob sie oder er fotografiert oder schreibt oder malt, wichtig für mich ist stets der Umgang mit sich selbst, der Welt wie sie empfunden wird und das, was daraus gezeigt werden kann. Früher habe ich gemalt und gezeichnet, später habe ich es auf dem Computer erzeugt, heute sehe ich es als „ehrlicher“ an, zu fotografieren.

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Elliott Erwitt, Dog Dogs*

Elliott Erwitt, Dog Dogs

Die Legende der Straße, Garry Winogrand, antwortete auf die Frage, ob er sich selbst einen Streetfotografen nenne, dass ihn diese Bezeichnungen völlig unberührt ließen. Man könne ihn bedenkenlos Tierfotograf nennen, denn schließlich fotografiere er auch Tiere. So wandere ich vom Tierfotografen Winogrand über den Tierfotografen Seidenstücker zum Tierfotografen Elliott Erwitt, den ich zuvor kurz erwähnt habe.

Elliott Erwitt zählt zu den einflussreichsten Fotografen der Geschichte. Als Mitglied und ehemaliger Präsident der wohl prestigereichsten Fotografen-Agentur Magnum hat er etliche einzigartige Zeugnisse von historischen Ereignissen und unvergessene Portraits von Stars gemacht.

Und wenn er auch noch so viele amerikanische Präsidenten abgelichtet hat, mag ich genau darauf nicht näher eingehen, denn mein Augenmerk liegt auf einer anderen Idee, einem anderen Werk, das er über mehr als fünf Jahrzehnte verfolgt hat: Hunde. Trotz der animalischen Hauptdarsteller ist es in meinen Augen ganz klar Street-Fotografie.

Street-Fotografie empfinde ich eben als vielgründige Chronik des alltäglichen Lebens. Erwitt fotografierte ja nicht anders als andere Fotografen Menschen in Alltag aufnehmen. Gut, er sprach von kleinen Tricks wie zum Beispiel einer Pfeife, die er nutzte, um die eine oder andere Reaktion zu provozieren, aber das stelle ich mir bei Menschen auch eher amüsant und nicht zielführend vor.

Der Hund ist ein seit etlichen Jahrtausenden in den meisten Kulturen unserer Erde geschätztes und vollwertiges Mitglied des menschlichen Alltags und es gibt reichlich Bildbände, in denen Hunde gezeigt werden, jedoch kenne ich nur den hier, der so sinnbildlich, menschlich und vor allem so umfangreich ist.

Das Buch nennt sich Dog Dogs* und ist im Verlag Phaidon erschienen. Es ist eigentlich „nur“ ein schlichtes Taschenbuch, die Aufmachung unspektakulär, die Fotografien stets randlos gedruckt und obendrein günstig zu ergattern.

Textlich ist nicht mehr zu finden als zwei kurze, doch interessante Statements und der Hinweis darauf, dass die Bilder elektronisch völlig unbearbeitet und unmanipuliert sind. Ich mag solch kleine Vermerke.

Erwitts ursprüngliche Idee für dieses Buch war, 1000 Hunde und eine Katze zu zeigen. Nun, es sind etwas weniger Hunde, dafür ein wenig mehr Katzen geworden, was aber letztendlich nicht relevant ist und den Spaß am Buch auch nicht mindert.

Wie Seidenstücker ist Erwitt ein Meister der formalen Bildgestaltung. Seine Bilder leben nicht nur durch inhaltliche Präsenzen, sondern auch durch die gekonnte Anordnung der Bildelemente, die schon dadurch einfache Situationen zu stets eigenen Szenen machen. Darüber hinaus genial empfinde ich die geschickte Verknüpfung mit inhaltlichen Details.

Erwitt ist ein intelligenter, humorvoller Mensch, dessen Witz in diesem Buch durch Kombination von menschlichen Emotionen und tierischem Verhalten Fotografien von unglaublicher Qualität hervorbringt.

Elliott Erwitt, Dog Dogs

Emotionen sind das, was ihm wichtig an der Darstellung der Hunde ist, sagt er. Er selbst hatte einen Hund, Teddy, eine fusselige, streunende Töle, aber überaus liebenswert und unglaublich faszinierend. Teddy legte eine menschlich anmutende Eigenständigkeit an den Tag, die Erwitt sehr faszinierte.

So besuchte Teddy auf eigene Faust regelmäßig die einiges entfernt wohnende Mutter Erwitts, durchquerte dabei zielsicher etliche Wohngebiete, überquerte Straßen und fand immer wieder mühelos zurück.

Sehr treffend und symptomatisch für das Buch finde ich seine Worte „Die Essenz dessen, was geschieht – das ist es, was von Bedeutung ist.“ Er schafft es auf diese Weise, auf über 500 Seiten den treuesten Begleiter des Menschen so zu potraitieren, zu dokumentiere, dass jegliche in Worte fassbare Form der Beziehung zum Hund in Bildern dargestellt ist.

Die Bilder, selbst inklusive der Abbildungen von Hunde-Statuen (ich habe das beim jungfräulichen Stöbern erst gar nicht richtig erkannt), geben einen weitreichenden Einblick in eine Welt, die einerseits sehr vertrauet, andererseits stets offen für neue Entdeckungen und ein Quell der Freude ist.

Elliott Erwitt, Dog Dogs

Einen weiteren, durchaus positiven Effekt hatte dieses Buch auf mich aber auch noch: Man fragt sich ja oft, wie manche Fotografen es schaffen, nur gute Bilder zu machen und man selbst bekommt nichts hin, was es nur annähernd so nah ans Feuer schafft.

Erstens ist es so, dass unsere „Götter“ uns nur eine Auswahl ihrer Arbeit zeigen und zweitens bin ich dankbar für dieses Buch, bei dem man aufgrund der hohen Anzahl der Bilder merken kann, dass auch ein Elliott Erwitt die gleiche Luft atmet wie wir.

Wie schon beschrieben, gewinnen manche Bilder erst an Qualität, wenn andere es ummanteln. Dies empfinde ich hier so. Bei dem einen oder anderen Bild aus dem Buch habe ich nämlich erleichtert aufgeatmet und festgestellt, dass ich meine eigenen Bilder nicht immer mit dem allgemeingültigen „Sensationsfaktormeter“ messen darf und das eine oder andere Bild unbemerkt ins Buch hätte mogeln können.

In dem Buch stecken eine Menge wahrlich sensationeller Aufnahmen, bei denen ich ungemein glücklich wäre, nur eines gleicher Güte zu schaffen, jedoch muss man sich vor Augen halten, dass dort auch über 50 Jahre Arbeit drin stecken. Die Gesamtsumme der Aufnahmen wird wahrscheinlich nie bekannt werden.

Demnach schenkt mir dieses Buch neben der Inspiration immer reichlich Mut, wenn ich mal eine Schaffenskrise habe und zeigt mir, dass Ausdauer ein nicht zu unterschätzender Faktor für gute Arbeit ist. Dieses Buch ist in meinen Augen ein Buffet an Inspiration, an dem man sich nicht sattessen kann.

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Fred Herzog, Photographs*

Fred Herzog, Photographs

Bei den bislang genannten Büchern sieht man fast ausschließlich schwarzweiße Fotografien. Es mag viele Ansichten geben, warum schwarzweiß für Street-Fotografie eine besondere Bedeutung hat: Die Zeit bot es anfangs nicht wirklich anders, Künstler haben sich so lange von der Werbung, der kurzlebigen Berichterstattung oder der privaten Knipserei distanzieren wollen und bis heute ist die Magie der Schwarzweißfotografie nicht von der Hand zu weisen.

Das besondere Empfinden grafischer Komponenten und die Konzentration auf inhaltliche Aspekte sind dabei nur zwei Punkte, die bei vorhandener Farbe an Wirkung verlieren können. Ich persönlich mag den Mangel dieser Information, ein (Gestaltungs-)Element, das ich in meiner Fotografie derzeit nicht integriere.

Nun ist die Welt für die meisten Menschen jedoch nicht farblos und auch in der Street-Fotografie gibt es eine ganze Reihe Fotografen, deren Arbeiten gerade von der Farbe leben und deren Arbeiten mich nicht minder beeindrucken.

Ein Pionier der farbigen Street-Fotografie ist der in Bad Friedrichshall geborene kanadische Fotograf Fred Herzog. Anfang der 50er Jahre wanderte er nach Kanada aus und begann, bei Spaziergängen Vancouver zu fotografieren. Heimlich, still und leise machte er dort Aufnahmen, die das Leben der Stadt dokumentierten.

Er legte Wert darauf, nicht entdeckt zu werden, die Situationen durch seine Anwesenheit nicht zu verändern, so wie Roland Barthes in „Die helle Kammer“* beschreibt, dass es nicht möglich sei, ein unbeeinflusstes Bild einer Person zu machen, sobald diese realisiert, dass eine Kamera auf sie gerichtet ist und dadurch gleich ihr Verhalten ändert.

Fred Herzog, Photographs

So wie er fotografierte, so wirken auch die Aufnahmen Herzogs: Nüchtern, beiläufig fotografiert, den Blick auf scheinbar Nebensächliches, Banales gerichtet.

Herzog fotografierte in einer Zeit, in der die klassische Street-Fotografie ihren Höhepunkt gerade hinter sich hatte. Ästhetisches Empfinden und urbaner Wandel haben ihm, wie wenigen anderen, die sich an Farbe herantrauten, die Möglichkeit geboten, das Genre innovativ zu erweitern.

Erst Jahre später, gen der 70er, gab es eine kollektivere Bewegung und dann auch die Anerkennung der Farbfotografen mit Vertretern wie Sternfeld, Shore oder Meyerowitz.

Das Buch Photographs* von Fred Herzog ist im Rahmen einer Ausstellung Ende 2010, Anfang 2011 bei c/o Berlin entstanden und im Verlag Hatje Cantz erschienen.

Es zeigt die Arbeit Herzogs, seine neue Heimat durchdringend und am Puls zu entdecken. Zu Beginn steigt das Buch mit fünf Schwarzweiß-Aufnahmen ein und ich war, als ich es bekam, erst einmal schwer irritiert. Herzog war also kein militanter Gegner der Schwarzweißfotografie. Im Gegenteil: Er achtete sie sogar sehr, zeigte sich beeindruckt und inspiriert.

Nach einem Vorwort des Herausgebers und einem Essay, das mir phasenweise einen Hauch zu suggestiv geschrieben ist, taucht man aber direkt ein in die Straßen Vancouvers. Herzogs langjährige Dokumentation reicht dabei über viele Dinge der üblichen Street-Fotografie hinaus. Mir kommt jedes Betrachten des Buches vor, als liefe vor meinem geistigen Auge ein Film ab, als könne ich seine Streifzüge mitverfolgen.

Fred Herzog, Photographs

Ein Blick über die Dächer, ein Blick in ein Fenster, eine Seitenstraße, eine Kreuzung, der Friseur, Zeitungsjunge und so weiter. Man sieht einige Stellen der Stadt öfter, teils aus veränderten Blickwinkeln und man beginnt sofort zu suchen. Das Faszinierende daran ist die Fassbarkeit der Bildinhalte. Ich kann anhand seiner Bilder glauben, einen realen Eindruck seiner Zeit und seines Raumes gewonnen zu haben.

Ich tue mich aber schwer, das Buch und dessen Bilder detailierter zu beschreiben, weil eben diese Bilder eine unglaubliche visuelle Wirkung, eine Verschmelzung unserer jetzigen Wahrnehmung und der damaligen Zeit haben, die schwer in Worte zu fassen ist.

Ich bin kein Autor, ich bin nur ein Fotograf, der seine Gedanken mitteilt. An mir prallen viele vergleichbare Aufnahmen ab wie Wasser an modernen Fasern, weil mir dort, wie Herzog es schafft, die Authentizität der Szenerien, die mitschwingende Skurrilität oder die Grätsche, vermeintlich belanglose Details zu integrieren, einfach fehlen.

Schon auf dem Cover sah ich einen am Kinn blutenden Mann, eine Zigarette in einer verbundenen Hand haltend und seinen von Hämatomen gezeichneten anderen Arm nach etwas, vielleicht nach dem Bus, winken. Ein älteres Mütterchen, dahinter zwei zwielichtige Gestalten, die Szene aufgeräumt, wohl früh am morgen. Es erinnert mich an den Pfützenspringer von Henri Cartier-Bresson, dessen Ende der Geschichte ich auch gern gehört hätte.

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Jedes der vier Bücher macht auf seine eigene Art neugierig, jedes der Bücher hat seinen Fotografen, der verantwortlich für diese Bilder ist. Interessant sind nicht immer nur die lautesten Bilder, interessant sind eben auch die Menschen hinter der Kamera, ihre Geschichte und deren Geschichten.

Ich kaufe mir nicht viele Bücher, weil sie es nicht wert sind, lange Zeit missachtet zu werden, weil man zu große Mengen von ihnen im Schrank stehen hat und den Milben trotzen lässt. Fotobücher haben sich zwar zu einem Sammelobjekt entwickelt, bieten jedoch meist viel, viel mehr als einen schönen Rücken oder einen monetären Wert. Viel Spaß beim Entdecken.

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