10. Januar 2013 Lesezeit: ~8 Minuten

Unterwegs in der Stadt der Gesichtslosen

Dokumentarische Portraits sollten etwas von den Portraitierten erzählen. Von dem, was sie tun und wer sie sind. Von ihren Lebensumständen, ihrer Umwelt, davon, wie sie sich fühlen und wie sie die Welt um sich herum wahrnehmen. Es sollte den Portraitierten ein Gesicht geben.

Ab und an muss man dafür jedoch Umwege beschreiten: Um den illegalisierten Migranten im französischen Calais ein Gesicht zu geben, schien es mir das Beste, den Bildern eben dieses vorzuenthalten.


Hocksha* aus dem Sudan war 16 Jahre alt als ich ihn 2010 in Calais kennenlernte. Das Portrait entstand während dem Wacheschieben am Eingang des alten African House. Mittlerweile hat Hocksha es nach Großbritannien geschafft.

Vor zwei Jahren kam ich das erste Mal in die nordfranzösische Küstenstadt Calais. Zusammen mit dem Frankfurter Fotografen Philip Eichler wollte ich hier im Sommer 2010 das Leben derer dokumentieren, die in unserer Gesellschaft kein Gesicht haben. Calais ist eine ihrer Hauptstädte.

Jedes Jahr stranden Tausende der sogenannten „illegalen“ Migranten in der kleinen Stadt am Ärmelkanal. Geflohen aus den Ländern Nord- und Zentralafrikas, des nahen und mittleren Ostens, haben sie sich bis hierher durchgeschlagen. Viele andere sind zurück geblieben.

Zuhause in Krieg, Armut und Unterdrückung, in den Flüchtlingslagern vor den Toren der Festung Europa oder im nassen Massengrab Mittelmeer. Hier am Ärmelkanal wartet die letzte hohe Hürde auf die Übriggebliebenen: Die Seegrenze zwischen Frankreich und England.


Nach sieben Jahren Zwangswehrdienst desertierte Habte* aus dem eritreischen Militär. Obwohl er der erste war, den ich 2011 in Calais kennenlernte, dauerte es lange, bis ich ihn portraitieren durfte. Mittlerweile hat Habte in Frankreich Asyl beantragt, lebt jedoch immer noch mit den anderen auf der Straße.

Zwei Wochen lang begleiteten Philip und ich die Bewohner des African House, einer halb verfallenen Möbelfabrik, die überwiegend von sudanesischen und eritreischen Flüchtlingen besetzt war. Wir erlebten mit ihnen die Härten des Alltags ohne Papiere, die täglichen Überfall-Razzien der französischen Polizei und die niederschmetternde Erfahrung, auf dem Weg ins vermeintliche Glück immer und immer wieder zu scheitern.

Wir hörten Geschichten von jungen Menschen, die unsere Vorstellungen dessen, was ein Mensch ertragen kann, weit strapazierten. Doch gerade diese jungen Flüchtlinge schafften es immer wieder auch, uns positiv zu beeindrucken. Mit ihrer scheinbar grenzenlosen, völlig unangebrachten Zuversicht, mit ihrer Offenherzigkeit und ihrer Gastfreundschaft – trotz alledem.

Und dann war da noch die „Calais Migrant Solidarity“, ein kleines Häufchen „NoBorder!“-Aktivisten, die ohne nennenswerte finanzielle Mittel, dafür aber unter umso größerem persönlichen Einsatz, praktische und wirkungsvolle Solidaritätsarbeit vor Ort leisten. Ein kleines Leuchtfeuer der Courage im tiefen Dunkel der europäischen Asylpolitik.


Amin* kam, wie so viele hier, aus Darfur. Während seine Schicksalsgenossen aus dem African House das Essen für das abendliche Ramadan-Fastenbrechen abholten, entstand dieses Bild im provisorischen Wohnzimmer des ungeliebten „Zuhauses“.

Mit dem Gefühl, diese vielschichtige und aus meiner Sicht bedeutsame Geschichte 2010 noch nicht umfassend genug erzählt zu haben, zog es mich 2011 erneut für mehrere Wochen in den Norden Frankreichs. Dieses Mal auf eigene Faust. Ich erarbeitete eine zweite Reportage, ergänzt um ein weiteres Medium und mit dem hoch gesteckten Ziel, die komplexe Situation der Flüchtlinge und ihrer Helfer möglichst umfänglich und der Lage entsprechend eindringlich zu erzählen. Das Ergebnis ist die Audio-Slideshow „City of the Faceless – living illegally in Calais“:

Sowohl die Fotoreportage aus 2010 als auch dieser Fotofilm leben von den Portraits der „Sans Papiers“ (franz. „Papierlose“). Und das, obwohl keines davon ein vollständiges Gesicht zeigt. Schon während der Planung für die erste Reportage hatte ich mich aus verschiedenen Gründen dazu entschlossen, die Flüchtlinge so zu portraitieren, dass sie auf den Bildern nicht identifizierbar sein würden:

Zuerst einmal haben viele Flüchtlinge Angst, ihre Gesichter öffentlich zu zeigen. Sie sind als „Illegale“ sowieso schon ständigen Schikanen der Staatsmacht ausgesetzt und zudem schwebt auch noch ständig das Damoklesschwert der Abschiebung über ihnen. Viele von ihnen hoffen zudem, es trotz allem noch nach Großbritannien zu schaffen und dort Asyl zu beantragen.

Sollten die britischen Behörden bei der Prüfung des Asylantrages allerdings herausfinden, dass ein Flüchtling durch einen anderen EU-Staat – in diesem Fall Frankreich – auf die Insel gekommen ist, gibt ihnen die EU-Verordnung „Dublin II“¹ die Möglichkeit, den Betroffenen ohne weitere Prüfung des Antrages dorthin zurückzuverfrachten.


Mit diesem Bild wurde das Eis gebrochen. Nach neun Tagen war Karim* 2010 der erste, den ich in Calais portraitieren durfte. Die Flüchtlinge forderten uns auf, seine Verletzung zu dokumentieren. Er hatte versucht, einer Polizei-Razzia – der dritten an diesem Tag – zu entkommen und wurde kurzerhand mit dem Knüppel gestoppt.

Doch Frankreich ist für viele Flüchtlinge keine Option. In Frankreich ist es weitaus schwerer, Asyl gewährt zu bekommen und selbst wenn man es schafft, ist die Unterbringung und Versorgung in vielen Fällen mehr als mangelhaft. Abgesehen davon, haben die meisten Sans Papiers noch ganz andere Gründe für die Flucht nach England:

Viele kommen aus ehemaligen Kolonien des britischen Empire, sprechen bereits Englisch, sind mit der Kultur ein wenig vertraut. Einige haben Familie in Großbritannien: Onkels, Tanten, Geschwister, die ihnen mit Unterkunft, Sprache und Behördengängen helfen können.

Der zweite, für mich noch ausschlaggebendere, Punkt war, dass die Anonymität der Bilder genau das ausdrückt, was die Situation der sogenannten „Illegalen“ ausmacht: Keine Papiere, keine Identität, keine Rechte. Das ist die kalte Realität, sowohl im Land von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ als auch im Rest des „in Vielfalt geeinten“² Kontinents.

Arbeit, Wohnung, Sozialhilfe, medizinische Versorgung – Pustekuchen. Ohne Aufenthaltsstatus bleiben einem die grundlegendsten Bürgerrechte verwehrt und man ist gut damit beraten, nicht aufzufallen.


Mohammed* lebte als Händler in Lybien. Mit der aufkommenden Revolte gegen Gaddafi floh er 2011 vor dem aufflackernden Hass gegenüber Schwarz-Afrikanern. Das Bild entstand während dem Kochen für die Essensausgabe mit der Calais Migrant Solidarity.

So war es auch nicht leicht, die Sans Papiers zu portraitieren. Zwar war die Gastfreundschaft der Flüchtlinge jedes Mal auf’s Neue bewundernswert, doch sobald eine Kamera ins Spiel kam, wurde die Situation zur Gratwanderung. Es dauerte beide Male über eine Woche, bis mir das nötige Vertrauen entgegengebracht wurde, um relativ unbehelligt in den Squats und Camps fotografieren zu können.

Wenn sich dann jemand zu einem Portrait bereiterklärte, musste das Bild möglichst auf Anhieb passen. Gelassenheit ist ein Luxus für den Teil der Gesellschaft, der sich frei bewegen kann.

Undokumentierte Flüchtlinge hingegen führen in ganz Europa ein Leben unter der Oberfläche der Gesellschaft, ein Leben im Versteck. Sie haben keine Lobby, kaum jemanden, der sich für sie einsetzt. Was ihnen bleibt, ist der unerschütterliche Durchhaltewillen derer, die nichts mehr zu verlieren haben. Nicht einmal ihr Gesicht.

Weitere Infos und Anmerkungen

Pro Asyl | Borderline Europe | Calais Migrant Solidarity

* Name geändert.

¹ Die EU-Verordnung Nr. 343/2003 (Dublin II) vom 18.02.2003 besagt im Wesentlichen, dass jeder Asylsuchende seinen Asylantrag in dem Land stellen muss, in dem er erstmalig seinen Fuß auf europäischen Boden setzt. Für die meisten Flüchtlinge würde das bedeuten, in Ländern wie Griechenland oder Italien Asyl beantragen zu müssen, in denen unhaltbare Zustände in der Flüchtlingspolitik und -unterbringung herrschen. Die EU-Kernländer wie Deutschland, Großbritannien und Frankreich schieben somit die Verantwortung für die Flüchtlinge auf die völlig überforderten Randstaaten ab.

² „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – Ideale der französischen Revolution. „In Vielfalt geeint“ – Wahlspruch der Europäischen Union.

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