02. Januar 2013 Lesezeit: ~3 Minuten

Die Bedeutungslosigkeit des Augenblicks

Es gibt Augenblicke, die bemerkt man nicht und es gibt Menschen, die sie bemerken und festhalten. Dann entstehen Bilder, die nicht auf den ersten Blick wirken. Man schaut vorbei, lässt sich ablenken, gibt den Bildern nicht die Zeit, die sie brauchen. Erst beim Wiederdraufschauen können sie sich entfalten wie ein Schmetterling aus dem Kokon.

Ich mag Bilder, die nicht um meine Aufmerksamkeit buhlen, es ist ein bisschen wie mit den Menschen: Diese Bilder tragen keinen Glamour oder Glanz. Sie sind immer ein bisschen unter Sand begraben und erst derjenige mit einem Entdeckerherz schiebt die Staubschicht hinfort und befreit sie aus ihrer Lethargie.

Solche Bilder entdeckte ich im Fundus meines Freundes, der ebenfalls fotografiert. Oft gehen wir gemeinsam raus, reisen zusammen und bringen immer ganz andere Blickwinkel unserer Umgebung mit. Dabei könnten wir nicht unterschiedlicher sein: Während ich detailverliebt mit dem Objektiv auf dem Boden klebe, entdeckt er in der Gänze surreale, merkwürdige Momente, die mir oft verborgen bleiben.

Da ist der Blick aus unserem Fenster in den Hof. Tentakelartige Schatten umgreifen den kinderleeren Sandkasten. Eine stille Unruhe geht in mir vor, ich kann den Gedanken nicht ganz greifen.

Linien, die Straßenzüge, Fenster und Türen formen. Ein Mann in einem Rollstuhl. Etwas stimmt nicht. Ich betrachte es genauer und sehe es dann, mir fröstelt beim Gedanken, der sich anschickt, sich aufzubauen.

Die Bilder erfassen einen Moment, doch der Betrachter zieht seine Schlüsse. Er kann darin die Nuance einer Unmöglichkeit entdecken. Nichts ist verändert, geschönt oder hinzugefügt.

Ganz allein der Gedankenschatz, die Fantasie des Betrachters ist notwendig für das, was sich daraus entwickeln kann. Das Fotografierte ist dabei wie eine Schablone, die Möglichkeit, etwas zu sehen, das nicht da ist.

Der wolkendurchwirkte Himmel dient als Hintergrund. Wieder Linien, ein Wirrwarr, das Ordnung schafft. Ich erinnere mich an diesen Ort; weiß, wie ich dort gestanden habe. Doch die Thronende, die mit einer Selbstverständlichkeit über all das wacht, hatte ich nicht bemerkt.

Erst zuhause, als das Bild an unserer Wand hing, bemerkte ich sie mit einem Aufschrei: „Da ist ja… hast du die gesehen?“ Er quittierte es mit einem süffisanten Lächeln.

Es macht mir Freude, Bilder dieser Art und Form zu betrachten. Sie geben nicht alles preis, sind immer auch ein bisschen Geheimnis. Standbilder eines Films, der erst noch geschrieben werden muss.

Jedes Jahr kommen ein oder zwei neue hinzu. Nicht, weil sie müssen, sondern weil diese Momente da sind und im richtigen Moment festgehalten werden. Ein Film, der über Jahre geschrieben wird und vielleicht nie ein Ende haben wird.

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Wer ebenfalls auf Entdeckertour gehen möchte, dem sei dieses Blog empfohlen.

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