30. Oktober 2012 Lesezeit: ~7 Minuten

Über Fotografien, die Geschichten erzählen

„Haltet die Uhren an. Vergesst die Zeit. Ich will euch Geschichten erzählen.“

Ich will als Straßenfotograf Geschichten erzählen, ich will vom Leben in den Städten berichten, von Begegnungen mit Menschen, von Ereignissen auf den Straßen. Ich möchte mit meinen Fotografien von Einsamkeit, Liebe, Freundschaft, Traurigkeit, Leidenschaft, Neugierde und mehr erzählen – vom Leben.

Zu einer Geschichte gehört aber das Vergehen von Zeit. In einer Geschichte verändert sich etwas, es gibt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In der Tat sind Fotografien in der Lage, etwas zu erzählen. Hier sind einige meiner Straßenfotografien – und Ideen, wie die Geschichten dazu aussehen könnten:

Ich höre das Rauschen des Regens und ich höre die eilenden Schritte eines Mannes, der durch den Regen rennt, mit jedem Schritt spritzt Wasser auf. Die Regentropfen, die auf den Regenschirm des Mannes fallen erzeugen ein ploppendes Geräusch. Er trägt einen Anzug und eine Aktentasche. Er kommt von der Arbeit, es ist schon spät, pflichtbewusst hat er die Zeit im Büro verbracht, bis es dunkel war.

Die Geschäfte sind immer noch hell erleuchtet, aber der Strom der Kunden ist mit dem Einsetzen des Regeschauers beinahe zum Erliegen gekommen. Er will nur noch nach Hause, in die winzige Zweizimmerwohnung, aber er wird die Kinder wieder nicht sehen, weil sie schon schlafen, wenn er nach Hause kommt.

Es ist kalt und dunkel, wenigstens hat es jetzt aufgehört zu regnen. Da steht diese Frau an der Bushaltestelle, sie ist nicht mehr jung, ihre Haare sind grau, ihr Mantel ist etwas zu weit, der Wind weht ihn zur Seite. Sie will nach Hause, aber ist das der richtige Bus?

Lieber fragt sie den Busfahrer, der ihr unfreundlich entgegenschnauzt, welches die richtige Linie ist. Sie ist ziellos durch die Geschäfte geirrt, denn eigentlich kann sie sich nichts leisten. Aber nun ist sie müde und will nach Hause in ihre enge, zugestellte Plattenbauwohnung, wo niemand auf sie wartet, wo niemand sie besucht.

Unsanft zerrt die Mutter am Arm des Mädchens, das schon wieder zu trödeln scheint, dabei muss die Mutter dringend zur Arbeit, aber vorher muss die Kleine noch im Kindergarten abgegeben werden. Aber das Mädchen hat sich umgedreht und blickt erstaunt auf den riesigen Hund, der fast so groß ist wie sie selbst.

Sie ist fasziniert von seinem sanften, gutmütigen Blick und sie würde ihn gerne streicheln, aber sie hat auch Respekt vor ihm, weniger weil ihre Mutter ihr verboten hat, fremde Hunde zu streicheln, sondern weil einer kürzlich nach ihr geschnappt hat, als sie ihn streicheln wollte. Aber dieser hier, da ist sie sich sehr sicher, würde es sehr genießen, wenn sie ihn streicheln würde. Aber sie muss weiter, in den Kindergarten.

Seit einigen Monaten betreibt der Mann nun seine mobile Straßenküche. Und es macht ihn glücklich, er ist in seinem Element, er kocht mit Leidenschaft und er berät seine Kunden voller Begeisterung. Gerne hört das junge Paar ihm dabei zu, wenn er Vorschläge macht, was er heute Leckeres für sie kochen könnte, irgendetwas mit Huhn und mit Sesam und mit Ingwer. Und das bestellen sie auch, zwei Mal.

Und es bedeutet Glück für ihn, weil er sich sicher ist, dass die beiden begeistert sein werden. Und er ist sich dessen bewusst, dass seine kleine Straßenküche nicht nur für das leibliche Wohl der Passanten und der Nachbarschaft sorgt. Sie ist auch ein Ort, an dem sich Menschen treffen, wo man seine kleinen Probleme des Alltags loswerden kann, wo man den neuesten Klatsch und Tratsch austauschen kann.

Sie sind ein junges Paar, noch nicht sehr lange zusammen, aber es ist die erste richtig ernsthafte Beziehung von beiden. Sie sind beide sehr verliebt, sie treffen sich häufig nach der Schule, sie nehmen dieselbe U-Bahn nach Hause. Sie dreht sich auf der Rolltreppe zu ihm um, um ihm nahe zu sein. Sie blickt ihn zärtlich an und wischt ihm Essensreste aus dem Mundwinkel – und er weiß diese Geste nicht wirklich einzuordnen, es ist beinahe eine mütterliche Geste.

Lange war der alte Mann nicht mehr an dem Ort gewesen, an dem er solch einen bedeutenden Teil seines Lebens verbracht hatte, an dem seine Karriere begonnen hatte, damals als Neuling, kurz nach der Uni – an dem Ort, wo er seine ersten Erfolge gefeiert, Niederlagen durchlitten, wo er Menschen kennengelernt hatte, die ihm wichtig waren, wo er Feinden auf Augenhöhe begegnete und triumphale Erfolge feierte.

Aber der Ort hat seinen Glanz von damals verloren, heute geht es nur noch um den kurzfristigen Erfolg, Geld. Freunde zählen heute nichts mehr, es gibt keinen Respekt mehr vor dem Konkurrenten. Er trauert dieser Zeit hinterher.

Die junge Frau sitzt in einem Bus auf der Fahrt nach Hause, sie ist in ihren Roman vertieft. Vielleicht ist es eine traurige, melancholische Erzählung, eine emotionale Geschichte, die sie hineinzieht und die sie ihre Umgebung vergessen lässt. Doch da fällt ihr Blick nach draußen, es wird bereits dunkel und es herrscht eine düstere Atmosphäre. Für einen Augenblick vermischt sich in ihren Gedanken die Welt aus dem Roman mit der wirklichen Welt draußen.

~

Wie erzähle ich mit meinen Fotografien Geschichten? Wie funktioniert das, obwohl Fotografien nur den Bruchteil einer Sekunde zeigen?

Betrachten wir die Wahrnehmung eines Bildes als Prozess. Der Betrachter sieht sich ein Bild an, es löst in ihm Emotionen und Erinnerungen aus – und es ist in der Lage, Assoziationsketten in ihm anzustoßen. Der Betrachter wird zu einer aktiven Instanz in der Wahrnehmung eines Bildes.

Es sind Emotionen, die ich in meinen Bildern zeige, die diese Assoziationsketten anstoßen und die Geschichten in Gang bringen. Es sind Erinnerungen an Gerüche und Geräusche, die ein Bild auslöst. Es sind die Blicke der abgebildeten Personen, die der Betrachter zu deuten versucht und die ihm etwas über das Innenleben, die Gedanken der Protagonisten verraten.

Es sind Situationen, die einer Vor- und einer Nachgeschichte bedürfen, die den Erzählprozess im Betrachter auslösen. Und es sind Elemente, die im Unklaren gelassen werden; Geheimnisse, Rätsel, die Dinge, die im Dunkeln, im Schatten, in der Unschärfe, außerhalb des Bildrahmens bleiben.

Der Betrachter will diese Rätsel lösen. Aber das Bild wird diese fehlenden Informationen nicht liefern, egal wie lange er es ansieht. Daher beginnt er selbst, sich das Unerzählte zu erzählen: Mit seinen eigenen, persönlichen Geschichten, seinen eigenen Erinnerungen, seiner eigenen Fantasie.

Jede Geschichte sieht anders aus, sie ist beeinflusst von der Person des Rezipienten, von seiner Vergangenheit, von seinen Erfahrungen, von der Situation, in der er das Bild sieht. Der Betrachter wird damit Teil des Wahrnehmungsprozesses. Er wird Teil des Bildes.

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