11. Oktober 2012 Lesezeit: ~7 Minuten

Zum Bild an der Wand über meinem Bett

Vor sechs Jahren fand ich zufällig auf dem Dachboden meiner Wohnung in Leipzig, einem alten Stalinbau im Zentrum, zwischen Bauschutt und Gerümpel eine Fotomappe mit alten Barytabzügen. Spuren von Dreck, Vergilbung und Nachlässigkeit ließen darauf schließen, dass ich ohne schlechtes Gewissen die Mappe mitnehmen konnte.

Einige Fotos zeigten Zählerstände, Aufschriften auf rostigen Tonnen oder Schriftzüge aus alten Industriekomplexen. Auf einem Abzug waren zwei Männer in schwarz gekleidet, mit Rollkragenpullovern, die mit Billiardqueues auf etwas verwiesen, das nicht im Bild zu sehen war; auf einem anderen Abzug war ein totgefahrener Hase zu sehen. „Dürers Hase“ stand hinten drauf. Eins der Bilder aber gefiel mir so gut, dass es immer an einer Wand meiner bisherigen Wohnungen seinen festen Platz fand.

Auf dem Bild ist die portraitierte Person völlig unscharf im Zentrum angeordnet, während im Hintergrund eine typisch ostdeutsche Straßenkreuzung zu sehen ist, alte Wartburgs, Trabbis, eine Brandschutzmauer. Gerade so ließ sich noch vermuten, die abgebildete Person lächle, aber ansonsten wies sie in der Unschärfe keine persönlichen Merkmale, Wiedererkennungsmerkmale mehr auf.

In den ersten Jahren schien es mir ein unheimlich brutales Portrait zu sein: Nur noch die Schädelform, nicht aber etwa die Augen, vermutlich wichtigstes Element eines Portraits, zeichnete sich ab. Die Unschärfe ließ die Portraitierte durchlässig erscheinen, ein Gespenst vor der betonierten, grauen Alltagskulisse der DDR. Als sei durch sie hindurch fotografiert worden, an ihr vorbei, auch wenn sie im Zentrum platziert war.

Mit der Zeit aber änderte sich dieser Eindruck. Nicht nur, weil ich mir einbildete, es ließe sich noch ein Lächeln auf dem Gesicht erkennen, sondern weil die unmittelbare Umgebung das Portrait ergänzte, den unscharfen Menschen portraitierte, ihren Alltag, ihre Gewohnheiten, ihren gewohnten Ausblick.

Ich fragte mich, wer sie sei, ob sie eine Freundin oder Verwandte des Fotografen war (der Eindruck von Nähe ist vermutlich auch ein Produkt der Unschärfe), in welcher Beziehung sie zu ihrer Umgebung stand. Einen fotografischen „Unfall“ schloss ich aus; dafür war zu bewusst ein unendlicher Schärfebereich gewählt worden, um den Menschen in die totale Unschärfe zu setzen.


© Kurt Buchwald

Und das war für mich schließlich auch das Kuriose: Auch, wenn die Abgebildete nur noch ein vager Eindruck heller und dunkler Flecken war, wurde sie durch den Hintergrund verortet. Wenngleich als Vorbeiziehende, die zunächst keinen Eindruck auf dem, was sie umgab, hinterließ. Abgebildet als Schatten und flüchtig. Ent-persönlicht, aber in der Unschärfe bestand auch ein Schutzraum, der die Person nicht preisgab, also auch nicht: entblößte.

Einige Jahre später stieß ich zufällig in der Bibliothek der Universität der Künste auf einen Bildband über DDR-Fotografie. Darin fand ich eine fotografische Serie, die nach demselben Muster komponiert war. Im Zentrum war stets eine unscharfe Person zu sehen, vor dem Hintergrund alltäglicher, ostdeutscher Straßenszenen, mal bei Tag, mal bei Nacht. Der Fotograf hieß Kurt Buchwald. Es dauerte noch ein paar Jahre bis ich durch den Anstoß einer Freundin Kontakt zu ihm aufnahm.

Wie er mir verriet, griff er das erste Mal in seine eigene Fotografie ein, störte die Aufnahme bewusst, indem er sich nachts am Alexanderplatz im schwarzen Mantel vor die Kamera stellte, das Bild verstellte. Daraus entstand eine Reihe, die er entlang der Straße Unter den Linden fotografierte, indem er vorgab, ein Selbstportrait zu machen, tatsächlich aber die Menschen, die ins Bild liefen aufnahm – zu sehen derzeit in der Berlinischen Galerie.


© Kurt Buchwald

Zu den unscharfen Portraits kam es, weil es ihn interessiere, was passiert, wenn man die Lehrbuchmeinung verlässt und die vorgegebenen oder angeratenen Größen umkehrt. Das Wesentliche unscharf und das Unwesentliche scharf stellt. Seine Arbeiten entstehen während der Suche. Im Prozess. So entwickelt Buchwald auch die Bildstörung weiter, er baut Blendenobjekte, die nur einen Fokus zulassen und einen Großteil der Aufnahme „einschwärzen“. Die gestörte Wahrnehmung regt ein Nachdenken über Wahrnehmungsgewohnheiten an, Zweifel an Gewissheiten.


© Kurt Buchwald

Sicherlich lässt sich Buchwalds Störungslust auch von seiner Herkunft ableiten, vom kulturellen Umfeld, in dem er künstlerisch sensibilisiert wurde: Entgegen der Realismusdoktrin in der DDR-Kunst fotografiert er zunächst Linien in Häuserwänden, Straßenmarkierungen, die er wieder zu Bildertableaus zusammensetzt, sucht abstrahierende Strukturen, abseits des Menschenbildes im „real existierenden Sozialismus“.

Die Bild-, die Wahrnehmungsstörung entwickelt er auch in ihrer politischen Dimension weiter, als Aktionskünstler. Angeregt durch das Fotografierverbot an der Berliner Mauer entsteht 1988 die Aktion „Fotografieren verboten!“, bei der er vor Wahrzeichen Plakate mit durchgestrichenen Kameras aufstellt; so etwa auf dem Roten Platz in Moskau, nach der Wende aber auch in ganz Europa und anderen Teilen der Welt.


© Kurt Buchwald

Es führte zu Irritationen nicht nur auf Seiten der Touristen, sondern auch der Obrigkeit und Exekutive. Eigentlich gab es zu der Aktion aber ursprünglich zwei Plakate: Eins mit einer Kamera im roten Kreis, eins mit durchgestrichener Kamera, da Buchwald, wie er sagt, die Dialektik der zwei Zustände von Fotografieren und Nichtfotografieren thematisieren wollte, die für ihn eine Einheit bilden.

Mich hat die Begegnung mit ihm und seinen Arbeiten angeregt, über die Selbstverständlichkeit meiner fotografischen Arbeitsweise nachzudenken. Aber mich auch ganz allgemein zu fragen: Was ist ein Portrait? Was ist ein Bild? Wie hinterfrage ich meine Sehgewohnheiten oder wie könnte ich gegen meine fotografische Intuition arbeiten, sie stören?

Er erzählte mir noch die Anekdote zu dem Bild über meinem Bett, dass ihm sein damaliger Mentor sagte, es störten ihn die Trabbis, die Banalität dieser Alltagsszene im Hintergrund. Die Hässlichkeit. Umso länger ich dieses Bild betrachte, umso überzeugter bin ich, dass es gerade nicht das Banalste in diesem Bild ist, weil es die abgebildete Person zeitlich verortet.

Leider ließ sich nicht abschließend herausfinden, wie die Fotomappe auf meinen Dachboden nach Leipzig gelangte. Selbst die Portraitierte, die sich ausfindig machen ließ, konnte mir diese Frage nicht beantworten; sie erklärte mir: „Es waren ja damals sehr bewegte Zeiten, in dem Sinne, dass sich viele Menschen von Ost nach West bewegten und viele Dinge einfach dagelassen haben.“

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Ausstellungen seiner Arbeiten
Geschlossene Gesellschaft – Künstlerische Fotografie in der DDR 1949-1989 in der Berlinischen Galerie vom 5. Oktober 2012 bis 28. Januar 2013

Lichtfang – Foto/grafie in der Galerie Alte Schule Adlershof vom 6. Oktober bis 10. November 2012

Wege zum Bild – Aktion mit und über Fotografie im Schillerpalais vom 4. bis 30. November 2012 mit der Eröffnung zum Kunst- und Kulturfestival Nachtundnebel am 3. November 2012

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Wer sich im Netz über Kurt Buchwald informieren möchte, besucht am besten seine Webseite.

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