01. Oktober 2012 Lesezeit: ~8 Minuten

Die Fotografie als unterstützendes Element sozialer Projekte

Anja Lehmann und ich haben uns in einem Café verabredet. Wir sitzen draußen. Das Wetter ist schön, sonnig aber frisch. Anja hat eine offene und herzliche Ausstrahlung. Vor kurzer Zeit stieß ich auf ihre Fotos im Netz und war sofort begeistert. Es ist die Intimität, die ihre Bilder vermitteln, ganz ohne den voyeuristischen Charakter, den man dahinter vermuten könnte.

Ein Blick, eine Geschichte, ein Foto und zum Schluss ein Gefühl, das bleibt. Es sind verschiedene, fernab von gesellschaftlichen Konventionen geprägte Strukturen, die sie allzu gern fotografisch festhält und in ihrem Kameragehäuse zum Stillstand bringt, bis sie das nächste Foto schießt und sich die Geschichte weitererzählt.

Mich interessiert, wie lange sie schon fotografiert, wie alles begann. Schon ihr Vater hatte ein Fotolabor zu Hause, in dem sie sich ausprobieren konnte. Doch bevor sie die Fotografie komplett vereinnahmte, machte Anja zu Ostzeiten eine Ausbildung zur Erzieherin, um dann direkt nach dem Studium als Sozialarbeiterin in einem Drogenverein zu arbeiten.

„Zu Ostzeiten“, sagt sie, „bekam man seitens der Lehrer eine Einschätzung, welche Ausbildung man anstreben sollte, doch irgendwie war der erste Beruf nie wirklich der richtige. Nach Jahren war mir dann klar: Fotografin, das ist es, das will ich sein.“

Ein Jahr lang jobbte sie in einem Fotostudio und bewarb sich dann erfolgreich beim Lette-Verein. Ihre Abschlussarbeit führte sie damals in die Mongolei und das erste Mal zu der Arbeit mit einer NGO (Nichtregierungsorganisation). Straßenkinder waren ihr Thema. Sie verteilte Einwegkameras unter den Kindern, die sich mit Begeisterung selbst fotografierten.

Damals schon merkte sie, dass es in diese Richtung geht. Soziale Projekte interessieren und fordern sie. Die Themen, die sie bearbeitet, müssen eine gewisse Schwere haben. Doch als freie Fotografin und im bevorzugten Themengebiet unterliegt man auch der Diskrepanz zwischen dem Geldverdienen mit der Fotografie und dem Verwirklichen seiner eigenen Ideen. „Man hat oft mit Leuten zu tun, die entgegengesetzte Einstellungen haben“, bemerkt Anja.

Doch mittlerweile hat sie eine gute Mitte gefunden. Vor ein paar Jahren stieß sie auf das Projekt „truth with a camera“. Ein Konzept, das Fotografen aus aller Welt die Möglichkeit eines ganz besonderen Workshops bietet. Allen fotointeressierten Menschen steht dieser Kurs offen. Man bespricht und einigt sich für jedes Jahr auf ein Land in dem man sich als Gruppe trifft, um mit den verschiedenen NGOs und der Presse vor Ort zu arbeiten. Themen sind soziale Brennpunkte, Initiativen der NGO und Betroffene verschiedenster Problematiken.

Die Fotografien werden nach Beendigung des Workshops für die Öffentlichkeitsarbeit der NGO zur Verfügung gestellt. Jeder Fotograf sucht sich sein Thema und bildet meistens mit einem einheimischen Fotografen ein Team. Tagsüber wird fotografiert und abends trifft man sich in gemütlicher Runde, um die Ergebnisse zu besprechen und zu diskutieren. Es werden Fragen erörtert wie: „Welche Geschichte soll erzählt werden, wie und auf welche Art und Weise?“

„Mir ist es wichtig, hinter dem stehen zu können, was ich tue und fotografiere. Ich möchte niemanden entstellen, entwürdigen oder demütigen, sondern lediglich so darstellen wie dieser bestimmte Mensch ist und lebt. Man muss eine Basis finden, wenn man mit Leuten in Kontakt kommt, die man sonst nie kennenlernen würde. Es ist das Reinkommen in andere Welten. Positiv, offen und abgesprochen, nicht inkognito.“

Anja ist als einizige deutsche Fotografin schon mehrere Male Teil dieser Gruppe gewesen und findet in diesem Projekt die Plattform, auf der sie sich ganz ihren Vorstellungen widmen kann. Ihre Wege mit „truth“ führten sie nach Ecuador und Bosnien. In Ecuador porträtierte sie in einer Initiative der NGO ein behindertes Mädchen mit dem Namen Marisabel, neun Jahre alt und eine behinderte Frau, Mari, 40 Jahre alt. „Mari ist mir sofort aufgefallen. Sie mit ihren vielen Sommersprossen und der Tatsache, dass sie unter all den behinderten Kindern die einzige behinderte Erwachsene gewesen ist.“ Dieses NGO-Projekt trägt den Namen: „Children with special needs.“

Anja gefällt diese Bezeichnung, denn es ist ein wichtiger Faktor, dass die Behinderung eines Menschen adäquater kommuniziert wird. „Für mich hatte dieses Projekt einen umglaublichen Lerneffekt, denn mir wurde klar, dass diese Menschen nicht viel anders sind als andere.“ Sie denkt kurz nach, ihr ist ein beschreibender Satz eingefallen, allerdings nur auf Englisch, auf Deutsch würde sie es so formulieren: „Erkenne das Problem und suche die Lösung!“

Die Leitfrage ist also: Wie könnte die Lösung aussehen? Aus diesem Grund hat sie die beiden nicht nur in der „Fundacion Integrar“ fotografiert, sondern auch zu Hause, um zu erörtern, welche Konflikte oder Probleme es dort gibt und ist zu der Erkenntnis gekommen, dass die Beziehungsebene fehlt, wie zum Beispiel bei Marisabel und ihrer Mutter. Zu Hause findet keine passende Förderung statt. Wieder in Deutschland wurde ihr bewusst, dass behindertes Leben nicht als Teil unserer Gesellschaft angesehen wird, sondern eher entmenschlicht wird.

Wichtig sei, dass die Behinderung nicht im Vordergrund steht. Für Anja ist die Geschichte aus Ecuador eine leise und sehr wahre Geschichte. „In dem Moment, in dem ich Mari unter der Dusche fotografieren durfte, war das für mich eine unglaublich offene und dankbare Geste. Es war nichts Absonderliches oder Komisches daran, eine behinderte Frau unter der Dusche zu fotografieren.

Vielmehr war es einfach natürlich, mit Mari unter die Dusche zu steigen und sie dabei fotografisch festzuhalten. Auch wenn es anfänglich eine Überwindung war, war es ein Teil der Fotoserie und den Schritt gegangen zu sein ist für mich ebenfalls ein Verdienst der Truth-Workshops.

Gerade Anfänger sind sehr berührt von den Problematiken, die sie fotografisch festhalten wollen. Ich empfinde kein Leid. Ich finde es postitiv. Man neigt dazu, ein Problembild zu suchen.“ Sie zeigt mir ein Foto von Mari und einem Freund. Er hält ihr die Nase zu und lacht. Und er ist verliebt in sie. Auf einem anderen sieht man Mari wie sie ihren Teddy im Arm hält.

Als Anja in Bosnien war, portraitierte sie Jugendliche in einem Romacamp. Anfangs war sie skeptisch, denn die Welt hat ihrer Meinung nach schon alles gesehen zu diesem Thema. Und genau an diesem Punkt hat sich mal wieder die große Hilfe der Kurse bestätigt.

Denn der leitende Fotograf sah ihre Bilder und erkannte die Zusammenhänge, die Geschichte, die sie vorher so nicht gesehen hatte. Jugendliche in Romacamps, die man eigentlich in großen Shoppingcentern erwartet. Das ist der Beweis für die Fotografin wie wichtig dieser Input und Austausch ist.

In der Begegnung mit mir muss Anja kurz lachen und ihr fällt auf, dass sie ja gar keine Berufsanfängerin mehr ist. Doch ihr Grundgefühl ist ein sehr schöpferisches, nämlich das, nie ausgelernt zu haben. Das ist wichtig, um sich immer weiter entwickeln zu können.

Unabhängig von Anjas engagierter Fotografie nimmt sie als freie Fotografin Aufträge unterschiedlichster Art entgegen. Auf meine Frage, ob es für sie noch eine Art Traumprojekt gibt, anwortet sie: „Eigentlich bin ich eine Vielfotografiererin, die es einfach liebt, zu fotografieren.

Reisen ist ein großer Antriebsfaktor, obwohl ich gemerkt habe, dass ich gar nicht super weit weg sein muss, um etwas zu finden, was mich bannt. Ich drehe mich um und habe zehn Projektideen im Kopf. Aber es gibt da schon etwas, zum Beispiel ein größeres Amerikaprojekt, ja, ein Amerikapanorama. Das wäre schon was.“

Ich bedanke mich für Anja Lehmanns Offenheit und das interessante und angenehme Gespräch an einem sonnigen, aber frischen Mittwochmittag.

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