08. August 2012 Lesezeit: ~7 Minuten

Poems To Remember

Am Ende des Weges wartet ein Glas Whisky und das weite blaue Meer. Romantisierte Vorstellungen vom Ende einer Reise sind meines Erachtens immer von großer Bedeutung, um überhaupt eine Reise zu beginnen.

Es ist ein Samstag, an dem wir losgehen. In der Tasche habe ich nicht wie üblich meine Canon A-1 und einen Haufen Filme wie mein Freund, sondern lediglich die SX-70 und zwei Impossible-Filme. Ich werde damit ein Land betreten, das ich bisher nur aus Büchern oder von Erzählungen kannte.

Ich bin also gespannt und ich rechne nach. Ich werde zwölf Tage dort sein und ich habe zwei Filme mit jeweils acht Bildern. Das macht dann 1,3 Bilder pro Tag. Mein Freund grinst und ich schaue auf seine Farbfilter, Filme, Objektive und Kamera.

Was habe ich mir nur dabei gedacht?

In meiner Vorstellung ist es das Bild eines Tages. Die Essenz einer Erinnerung, gefiltert und reduziert auf ein Quadrat und ein bisschen Farben, auf die ich fast keinen Einfluss habe.

Blick auf den Loch Lomond, links am Anfang der Reise, das erste Polaroid, ausruhen am Morgen mit einer Tasse Ingwertee in der Hand, rechts nach zwei Wandertagen fast das Ende des Sees erreicht, Wildcampen an einem der schönsten Plätze.

Die ersten Tage bleiben jedoch bildlos. Wir sind übermüdet von der langen Fahrt, den Stopps, der Schwere unseres Gepäcks und der Suche nach Zug- und Wegstrecken, nach Nahrung und Unterkunft. Aber die Bilder im Kopf verdichten sich.

Das erste Bild entsteht am fünften Tag. Es ist kein romantischer Impuls, der mich zur Kamera greifen lässt. Es ist einfach nur der richtige Moment, den Rucksack von den Schultern zu nehmen und abzudrücken.

Das zweite Bild entsteht am Abend. Wir haben einen steinigen, felsigen und anstrengenden Wegteil hinter uns gebracht. Meine Höhenangst hat sich verpisst und wir finden den schönsten Flecken auf Erden weit und breit. Hier fließt ein Bach in den Loch Lomond, wir schauen auf glitzerndes Wasser, auf goldene Baumspitzen. Wir baden unsere geschundenen Füße im kalten Bachzulauf und sind an diesem Abend unendlich glücklich.

Es ist noch früh am Morgen, wir gehen gerade los und sehen dann dieses Haus am Wegesrand, rechts: Einen Tag später, wir beschließen mit den Bus ans Meer zu fahren, aber der Busfahrer hält nicht an, wir nehmen den nächsten Bus und fahren bis Fort William, wo wir uns etwas verloren vorkommen. Wir steigen am Morgen im Regen auf einen Berg und oben begrüßen uns die Sonne und grün schattierte Berge.

Es regnet und die Nacht war kurz. Vor unserem Zelt gab es seltsame Geräusche. In unserer Vorstellung waren es grauenerregende Monster mit glühenden Augen und fletschenden Zähnen, aber in Wahrheit waren es wohl nur Dachse oder Füchse auf der Suche nach Nahrung. An diesem Morgen mache ich das dritte Polaroid. Ich sehe von einer Anhöhe auf ein weiß getünchtes Haus. In Wahrheit ist alles viel heller und klarer. Das Bild dagegen wirkt düster und verwaschen wie meine Gedanken, das Haus ist kaum sichtbar.

Das vierte Polaroid entsteht am achten Tag. Wir wollten eigentlich ans Meer und strandeten in Fort William, am Fuße des Ben Nevis. Am Abend gibt es tolle Wolkenformationen und einen Regenbogen. Wir staunen, aber ich bin zu faul, die Kamera rauszukramen. Meine Füße schmerzen, meine kleinen Zehen sind blutunterlaufen, die Beine meines Freundes sind ein einziges Tal voller aufgekratzer Mückenstiche. Nur die Kühle und Süße eines schwarzen Erfrischungsgetränks hilft, nicht alles völlig bekloppt zu finden.

Wir verlassen Fort William. Nehmen den letzten Zug nach Mallaig. Wir steigen um 23.30 Uhr in Morar aus und stehen im Dunkeln. Unsere Suche nach dem Campingplatz treibt uns über Umwege auf die Fernstraße. Es ist fast Vollmond und wir tun, was wir die letzten Tage taten: Laufen. Nach zwei Stunden erreichen wir endlich unser Ziel. Alles ist dunkel, niemand ist wach. Wir schlafen unter Bäumen bis zum Morgengrauen. Es duftet nach Meer.

Links, die Sandlinien des ablaufenden Wassers bei Ebbe, rechts, endlich der Blick auf den Antlantik bei Sonnenuntergang und Wein.

Es ist 6.00 Uhr in der Frühe. Wir sitzen in der großen und warmen Küche von Davids Familie. David ist groß und schlank, hat große Augen, die sich hinter Gläsern verbergen. Er ist über 70 und erzählt von seiner Zeit in Berlin und Belgien mit tiroler Akzent. Wir grinsen und glauben, zu träumen. Auf dem alten Herd dampft das Teewasser, vor uns stehen Teller, auf denen wir uns riesige Brötchen mit Marmelade beschmieren. Hinter uns schnarcht Molly, die alte und gutmütige Hündin des Hauses. Über uns auf einem Holzgestell trocknen unsere Schlafsäcke. Der Regen hatte uns in der Nacht wieder einmal erwischt.

Davids Nichte gehört das Haus, der wilde Garten mit Orchideen und der Campingplatz. Wir dürfen bleiben und unser Zelt aufbauen. Wir lernen die halbe Familie kennen. Da sind Granny und die Blinde, die Schwestern von David, die sich wunderbar ergänzen, denn was die gutmütige Granny vergisst, daran erinnert sie die Blinde. Am Ende des Tisches sitzt ein alter Mann, ich weiß seinen Namen nicht. Aber er lächelt und fragt die hereinkommenden Kinder, ob sie eine gute Zeit haben. Ihn bringt nichts aus der Ruhe. Ich schließe die Menschen umgehend in mein Herz.

Links, die zerklüfteten Steinformationen und mein Mitbringsel von der Insel mit gesammelten englischen Gedichten, rechts, Formen und Linien überall.

Als wir unser Zelt aufbauen, treffen wir im Garten einen Mann mit einem Dudelsack. Er übt. Alles ist unwirklich, wir hören das Meer und schmecken salzige Luft. Auf dem Weg dorthin kommt uns eine Frau entgegen, sie gibt uns zwei halbe Weinflaschen in die Hand und verabschiedet sich mit einem Lächeln. Das alles passiert nicht wirklich, oder?

Meine letzten Polaroids verschieße ich alle an diesem und dem folgenden Tag. Hier, an diesem Ort, läuft alles zusammen. Hier bin ich glücklich, folge den Linien des ablaufendes Wassers bei Ebbe, bestaune die zerklüfteten Steine am Meer, sammle Muscheln und bewundere ausgehöhlte Krabbenkörper.

Ich habe noch den Silvershade in der Tasche. Als Abschied vom Meer gibt es noch zwei Bilder. Das Meer ist ruhig und silbern.

In einem Seefahrer-Wohlfahrtshaus in Mallaig ist Bücherverkauf. Ich finde ein Buch mit Gedichten – „Poems To Remember“. Wenn ich mir meine Polaroids so betrachte, dann ist dies wohl genau der Titel, mit dem ich sie umschreiben würde. Verwaschen, bruchstückhaft, romantisch und ein bisschen fern der Realität.

Am Ende des Weges wartete das weite blaue Meer, zwei halbvolle Flaschen mit Wein und eine tolle Familie, deren Herzlichkeit wir nicht so schnell vergessen werden. Der Schluck Whisky blieb uns in Schottland allerdings in all der Zeit verwehrt.

Ähnliche Artikel