20. Juli 2012 Lesezeit: ~9 Minuten

Meine Reise nach Bangladesh

„Sind Deine Bilder nicht gut genug, warst Du nicht nah genug dran!“

Dieses Zitat von Robert Capa geistert mir immer wieder auf’s Neue durch den Kopf, als ich meine Reise nach Bangladesh, meinem bis dahin „exotischsten“ Reiseziel in Südasien, antrete. Was ist es, was mich in dieses kleine und zugleich am dichtesten besiedelte Land der Erde zieht, das in den westlichen Medien allenfalls durch immer wiederkehrende Naturkatastrophen Aufmerksamkeit erregt?

Nicht nur die ohnehin spärlich gesäten Touristenattraktionen sind es, sondern viel mehr die Tatsache, dass man über dieses kleine Fleckchen Erde doch so wenig zu sehen und zu lesen bekommt und ausländische Touristen lieber einen Bogen um dieses Land machen.

Doch wie leben und arbeiten die Menschen dort auf engstem Raum zusammen? Wie sind die Arbeits- und Lebensbedingungen, die Infrastruktur und der soziale Wohlstand? Zählt Bangladesh doch zu einem der wohl bekanntesten Billiglohnländer auf unserem Planeten.

In Dhaka freunde ich mich mit dem Fahrrad-Rikscha-Fahrer Abdul an. Er spricht ein wenig Englisch, wofür ich sehr dankbar bin, da die meisten Bengalen außer Bengali und Hindi keiner weiteren Fremdsprache mächtig sind. Abdul bemerkt schnell, dass ich an den wenigen Sehenswürdigkeiten Dhakas auch wenig Interesse habe. Ich schildere ihm, was mich wirklich interessiert und was ich sehen und – wenn möglich – auch in Bildform festhalten möchte.

Abdul erweist sich als große Hilfe für mein Vorhaben. Über einen Mittelsmann werde ich neben den Schiffswerften von Dhaka auch in eine Textilfabrik und eine Gerberei eingeschleust, ohne von Wachleuten oder Vorarbeitern des Geländes verwiesen zu werden. In einem Stadtteil im Osten von Dhaka stoppt Abdul seine Rikscha. Er meint, ich solle selbst etwas die Gegend erkunden und mich später wieder mit ihm an einer gemeinsam ausgemachten Stelle treffen.

Ich schaue mich um und entdecke neben der Straße einen Seitenarm des Buriganga, einem Ausläufer des Ganges, der durch Dhaka fließt, der teilweise von einer Steinmauer verdeckt ist. Am Flussufer arbeiten Männer in der brütenden Mittagshitze. Sie reinigen kleine Plastikscherben im schmutzigen, geradezu schwarzen Flusswasser, die anschließend am Ufer großflächig zum Trocknen ausgelegt werden, bis sie dem nächsten Recyclingschritt zugeführt werden.

Mit der Kamera in der Hand beschließe ich, die Szenerie aus der Nähe zu betrachten. Erstaunt, einen Ausländer zu sehen, unterbrechen die Arbeiter für einen kurzen Augenblick ihre Tätigkeiten. Ich begrüße die Männer mit einem freundlichen „assalam o alaikum“ und beobachte das Treiben, das direkt vor mir stattfindet.

Um natürlich wirkende, ungestellte Aufnahmen machen zu können, lasse ich mir Zeit. Die Männer sollen sich an die Kamera und meine Präsenz gewöhnen. Nachdem mir niemand zu verstehen gibt, dass ich unerwünscht sei und ich mir sicher sein kann, von ihnen akzeptiert zu sein, beginne ich meine Aufnahmeserie aus verschiedenen Positionen, Blickwinkeln und natürlich aus nächster Nähe.

Man fühlt sich durch mich nicht gestört. Im Gegenteil: Die Männer gehen ihren Tätigkeiten, dem Waschen und Auslegen der Plastikscherben weiter nach, als wäre ich gar nicht anwesend. Ich überlege mir genau, wie die Bilder später aussehen sollen. So vermeide ich, ziel- und planlos den Auslöser zu betätigen.

Ich stelle mir das Bild schemenhaft vor dem inneren Auge vor. Die Positionierung der Personen im Vordergrund, der Anteil des Hintergrunds, was fokussiert sein soll und welchen Augenblick ich abwarten sollte, um interessante und auch stimmungsvolle Bilder machen zu können.

Ich mache einige Aufnahmen, mal unmittelbar direkt vor den Arbeitern, dann wieder mit etwas Abstand, um den Hintergrund mit ins Bild einfließen zu lassen. Man scheint Vertrauen in mich und mein Handeln zu haben. Hin und wieder unterbricht einer der Männer seine Arbeit, um interessiert meine bisherigen Aufnahmen auf dem Display zu begutachten.

Mit einem Daumen nach oben oder einem zustimmenden Kopfnicken signalisiert man mir, dass man mit meiner Arbeit zufrieden zu sein scheint. Unglücklicherweise ist von den Arbeitern keiner der englischen Sprache mächtig und so beschränkt sich unsere Kommunikation lediglich auf Gestik und Mimik. Man hat verstanden, dass ich natürliche Bilder des Geschehens machen möchte und auf gestellte Aufnahmen keinen Wert lege.

Mich überkommt das Gefühl, als würde die Männer ein gewisser Stolz erfüllen, bei ihrem Tun fotografisch festgehalten zu werden. Es wird energisch gearbeitet. Man möchte, dass ich zeige, wie fleißig und unter welchen Bedingungen diese Tagelöhner ihr täglich Brot verdienen.

In solchen Situationen überkommt mich immer wieder ein Gefühl von Scham. Die Frage, warum ich hier stehe und nicht selbst mit den Beinen im schwarzen Flusswasser stehen muss, um den Abfall der zivilisierten Welt zu waschen. Man beginnt, über den Sinn und Unsinn unseres täglichen Treibens, unserer eigenen Probleme in der „zivilisierten“ westlichen Welt im Vergleich zu dem, was einem hier vor Augen geführt wird, zu philosophieren.

Jeder, der schon einmal durch einen Slum gelaufen ist, wird das nachvollziehen können. Das Erstaunliche an solchen Situationen ist nicht das große Elend, das sich im Vergleich zu unserer technologischen und materialistischen Gesellschaft darbietet, sondern viel mehr das Verhalten der Menschen selbst. Kein Zeichen von Trauer oder Verzweiflung ist in den Gesichtern zu erkennen. Im Gegenteil.

Man wird freundlich begrüßt, zum Tee eingeladen und trotz der Sprachbarriere in Gespräche verwickelt, die nur mit Händen und Füßen geführt werden. Kurz gesagt: Man spürt eine Wärme, die von diesen Menschen ausgeht, wie wir sie in unserer Gesellschaft überhaupt nicht kennen.

Nicht zu leugnen ist überdies die immense Verschmutzung der Umwelt. Bei einer Bevölkerungszahl von mehr als 158 Millionen Einwohnern auf einer Fläche, die doppelt so groß wie Bayern ist, entsteht ein klares Problem. Ein bizarres Bild bietet sich mir noch am selben Abend. An einer anderen Stelle auf derselben Straße sehe ich auf der anderen Seite des Flusses in der Ferne die rauchenden Schornsteine zahlreicher Backsteinfabriken.

Eilig, da die Sonne bereits untergeht, suche ich einen Standpunkt, von dem aus die Sicht nicht durch Bäume, Gebäude oder Lastwagen behindert wird. Ich klettere auf einen Sandberg, der zu einem Fabrikgelände gehört. Da oben bietet sich mir ein geradezu spektakulärer und surrealer Blick auf die Szenerie am gegenüberliegenden Flussufer. Die untergehende Sonne verstärkt diese unwirkliche Atmosphäre noch.

Einige Meter vor mir steht ein Mann, der ebenfalls von diesem Sandberg aus den Sonnenuntergang beobachtet. Als er mich und meine Kamera bemerkt, geht er höflich zur Seite, um nicht im Bild zu stehen. Ich bedeute ihm, so stehen zu bleiben, den Rücken mir zugewandt. Er willigt ein und ich mache meine Aufnahme. Der Betrachter soll diese apokalyptisch anmutende Szene durch die Augen des Mannes vor mir sehen, als wäre es seine eigene Heimat, der Ort, an dem er jeden Tag auf’s Neue aufwacht.

Es sind lediglich zwei Impressionen, die ich hier schildere, nur ein Bruchteil dessen, was ich in einem Monat Aufenthalt in Bangladesh gesehen und erfahren habe. Ob ich dorthin zurückkehren möchte? Bangladesh ist mit Sicherheit kein Urlaubsland mit Erholungsgarantie. Es ist viel mehr ein Stück Lebenserfahrung und eine Horizonterweiterung, die man dort erleben darf.

Davon abgesehen ist Bangladesh durchaus ein fotografischer „Garten Eden“, der noch entdeckt werden möchte. Trotz großer Armut und Überbevölkerung, staubigen und verdreckten Straßen, Verkehrsstaus und Smog würde ich eine Reise dorthin erneut antreten.

Zurück in Deutschland beginne ich mit der Selektion meiner Bilder. Da ich schon vor den Aufnahmen vor Ort überlege, was und wie ich etwas zeigen möchte, geht dieser Arbeitsschritt recht zügig vonstatten. Es ist besser, genau zu überlegen, was man wie ablichten möchte, als ständig den Auslöser unkontrolliert zu betätigen.

Mit „offenen“ Augen unterwegs zu sein, ist überdies unabdingbar. Dennoch treffe ich eine engere Auswahl meiner gesamten Aufnahmen. Welche Bilder transportieren Stimmungen, Gefühle oder Botschaften? Welche haben einen harmonischen Bildaufbau, interessanten Hintergrund oder laden zu langem Betrachten und Nachdenken ein? Wie aussagekräftig ist diese oder jene Aufnahme? Das sind die Fragen, die ich mir bei meiner persönlichen Selektion stelle.

Der Betrachter soll nicht innerhalb von ein paar Sekunden möglichst viele Bilder anschauen. Er soll gefesselt sein, neugierig, und das Bild auf Details hin untersuchen. Wenn einem so etwas gelingt, spreche ich von einer geglückten Aufnahme. Nicht zu vergessen die Bilder, die einem die Nähe zu den abgelichteten Menschen vermitteln. Sie zählen meiner Meinung nach zu den wichtigsten, führen sie den Bildbetrachter doch unmittelbar ins Geschehen hinein. Getreu dem Leitsatz:

Sind Deine Bilder nicht gut genug, warst Du nicht nah genug dran!

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