07. Juli 2012 Lesezeit: ~6 Minuten

Buchrezension: Saul Leiter. Retrospektive

Über das Buch zur Retrospektive des Werks von Saul Leiter in den Deichtorhallen Hamburg

„Ignoriert zu werden, ist ein großes Privileg.“ Spätestens mit den Ausstellungen im Joods Historisch Museum in Amsterdam im Jahr 2011 und der großen Retrospektive, die dieses Jahr im Haus der Photographie in den Deichtorhallen in Hamburg zu sehen war, haben wir dem heute 88-jährigen Fotografen Saul Leiter, von dem dieser Satz stammt, dieses Privileg genommen. Sorry, Saul.

Wer die Gelegenheit versäumt hat, Leiters Werk in den beiden Ausstellungen kennenzulernen, kann dies nachholen: Zur Retrospektive in Hamburg haben die Kuratoren der Ausstellung, Ingo Taubhorn und Brigitte Woischnik, einen prachtvollen Bildband* herausgegeben, der denselben Titel trägt, wie die Ausstellung: „Saul Leiter. Retrospektive“.

Mit der Auswahl von Texten namhafter Autoren und der Zusammenstellung von Bildern aller seiner Schaffensrichtungen beabsichtigen die Herausgeber uns zu erläutern, warum wir gut daran tun, Leiters Wunsch nach dem Verbleib im Verborgenen zu ignorieren: Mit der Entdeckung seines fotografischen Werkes, so die Autoren, wurde die Geschichte der Fotografie umgeschrieben.

Aber beginnen wir von vorn. In seinem kurzen biographischen Überblick schildert Ingo Taubhorn, wie Leiter 1923 in Pittsburgh, Pennsylvania, in ein sehr religiöses, jüdisches Umfeld geboren wurde; sein Vater sah ihn zum Rabbi berufen. Doch er entfloh dieser Welt – nach New York, in die Bildende Kunst – und in die Fotografie. Er widmete sich der Schwarzweißfotografie, malte, begann in Farbe zu fotografieren, seine Malerei und seine Farbfotografie beeinflussten sich gegenseitig, das alles meist nebenher, kaum als Beruf, im künstlerischen Untergrund von Manhattan, kaum beachtet. Nur als Modefotograf für das Modemagazin Harper’s Bazaar erreichte er zeitweise eine gewisse Bekanntheit.

Das klingt wie die Biografie eines Künstlers, wie sie es womöglich zu Zigtausenden in New York gegeben hat. Denn niemand, vielleicht noch nicht einmal Saul Leiter selbst, erkannte damals, was das Buch anhand überzeugender Beispiele belegt: Sein fotografisches Werk stellt eine Sensation dar. In den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts galt Fotografie noch kaum als Kunstform. Sie diente zumeist dokumentarischen Zwecken, journalistischen, war wenig mehr als ein Handwerk und hatte kaum etwas in den Museen und Galerien der Welt zu suchen.

Leiter entzog der Fotografie die Zweckgebundenheit und hob sie auf das Podest der Kunst. „Saul Leiter ist der Maler unter den Straßenfotografen“, schreibt Rolf Nobel und er erläutert, worin sich Leiter von den französischen und amerikanischen Begründern der Street Photography unterscheidet: Leiter vermied in seinen Fotografien das Erzählerische und das Dokumentarische. Stattdessen ist seine Bildsprache von Fragmenten und Impressionen geprägt, mischt Elemente des alltäglichen Lebens mit abstrakten Flächen und Formen.

Er zeigt eine Welt der Oberflächen – und er erweitert, wie Ulrich Rüter schreibt, „den Blick auf eine Erkundung des Denkens und Fühlens.“ Das alles trägt dazu bei, dass sich seine Bilder eindeutigen Erklärungen verweigern. Sie stiften Verwirrung, sind mysteriös, lyrisch, poetisch: „Ich mag es, wenn man nicht sicher ist, was man sieht“, sagt Leiter.

Doch noch mehr überraschen uns die Autoren in der Einordnung von Leiters Farbaufnahmen in die Geschichte der Fotografie: Bis vor wenigen Jahren wurde der Beginn künstlerischer Farbfotografie (als Technik gibt es sie schon erstaunlich lange: seit Mitte des 19. Jahrhunderts) etwa mit den Namen William Eggleston, Diane Arbus und Stephen Shore verbunden – und den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Leiter begann damit schon mehr als 20 Jahre früher, 1948. Beeinflusst etwa vom Action Painting eines Jackson Pollock oder der Farbfeldmalerei von Mark Rothko prägen monochrome Farbflächen, farbige Objekte – Verkehrsschilder, Regenschirme, Autos – die Komposition seiner Fotografien.

Anschaulich zeichnet das Buch diesen wichtigen Abschnitt der Fotografiegeschichte nach und zeigt das Umfeld und die Einflüsse einer Revolution auf, die nicht stattfand. Weniger, weil Leiter unverstanden blieb, das auch, aber mehr noch, weil es ihn nicht in die Öffentlichkeit trieb, weil er zu wenig Egomane war, um auf einen Umsturz in den Sehgewohnheiten seiner Zeit zu drängen.

Die spannende Auswahl seiner Fotografien und Gemälde – einige der „Klassiker“, die im 2006 bei Steidl erschienenen Buch „Early Color“ zu sehen waren, wurden hier weggelassen – vermittelt einen tiefen Einblick in alle Aspekte des künstlerischen Schaffens Leiters. Seine Schwarzweißfotografien, die Farbfotografie, die Modefotos, die Malerei. Wunderbar auch zwei Skizzenbücher, die kleinformatig in das Buch eingebunden wurden. Die Texte von Ingo Taubhorn, Adam Harrison Levy, Ulrich Rüter, Vince Aletti, Carrie Springer, Rolf Nobel und Brigitte Woischnik beleuchten kenntnisreich und lesenswert die verschiedenen Aspekte des Wirkens Saul Leiters.

Aber am meisten berührt haben mich zwei Texte: Zum einen „Freitags mit Saul“ von Margit Erb, einer Mitarbeiterin der maßgeblich für die Entdeckung Leiters verantwortlichen New Yorker Howard Greenberg Gallery. Erb schildert ihre Besuche in Leiters Wohnung in Manhattan, in der er seit Jahrzehnten lebt und die sie als verwunschenen Ort bezeichnet. Voller Sympathie beschreibt sie seinen Humor, seinen Sarkasmus, seinen Charme, seine Kauzigkeit, aber auch seinen Alltag und ihre Arbeit mit ihm beim Aussuchen von Bildern.

Und da ist zum andern „Homage to Soames Bantry“, ein anrührender und warmherziger Text von Saul Leiter selbst über seine langjährige Lebensgefährtin, die große Liebe seinen Lebens, eine Künstlerin, die nie wirklich Anerkennung erhielt und die 2002 starb. Leiter durfte einige der Werke von Soames Bantry aussuchen und sie sowohl in der Hamburger Ausstellung als auch im Buch zur Ausstellung vorstellen.

„Wir nehmen uns zu ernst. Wir sind nicht so bedeutend, dass wir so viel Aufmerksamkeit verdienen“, sagte er einmal. Beinahe wäre ihm sein Plan, „einfach so in Vergessenheit“ zu versinken, geglückt.

Ingo Taubhorn, Brigitte Woischnik (Hg.): Saul Leiter. Retrospektive*

Katalog zur Ausstellung im Haus der Photographie, Deichtorhallen Hamburg.

Deutsch, Englisch. 296 Seiten.

Kehrer Verlag, Heidelberg, Berlin 2012.

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