15. Juni 2012 Lesezeit: ~9 Minuten

Im Gespräch mit Volker Gerling


© Susanne Schüle

Als ich im Herbst 2006 nach Köln kam, gab es eine Begegnung, die mir bis heute sehr prägend in Erinnerung geblieben ist. Ich war auf einer Veranstaltung des Kölner Kinderfilmfestivals, bei der der Daumenkinograph Volker Gerling einige seiner Daumenkinos vorführte.

In einem winzigen Kino stand er mit einem Mikrofon ausgestattet vor der Leinwand. Vor ihm aufgebaut war ein Tisch mit einer Kamera und einer Lampe, unter denen er seine Daumenkinos durchblätterte, während er die Geschichten zu den Daumenkinos erzählte. Wie er die Menschen, die er da festgehalten hatte, getroffen und fotografiert hatte.

Besonders hängen geblieben ist mir das Daumenkino mit dem Mädchen, das man im Spiegel sieht. Sie schließt die Augen, lässt sich ihre langen Haare abrasieren und als sie die Augen wieder öffnet, beginnt die Aufzeichnung des Daumenkinos und hält auf 36 Bildern ihre Reaktion fest, als sie sich das erste Mal kahlgeschoren im Spiegel sieht.

Daher freue ich mich besonders, Euch Volker heute in einem umfangreichen Interview vorstellen zu können. Das Ganze haben wir reichlich illustriert mit Ausschnitten seiner Arbeiten, zwei Videos und Fotos von seinen Wanderungen.


© Volker Gerling

Hallo Volker. Ich freue mich, dass Du Dir die Zeit für ein Interview nimmst, danke schön. Zuerst einmal: Erzähl uns doch mal ein bisschen was über Dich. Wer bist Du, was machst Du?

Während meines Studiums an der Filmhochschule habe ich festgestellt, dass meine Liebe nicht dem „großen“ Film für die Leinwand oder dem Bildschirm gilt, sondern einer apparatefrei funktionierenden Sonderform des Films – dem fotografischen Daumenkino. Dies nicht, weil ich Nostalgiker bin, sondern weil ich Geschichten erzählen möchte und lange nach der richtigen Form gesucht habe, mit der ich die mir wichtigen Geschichten erzählen kann.

In meiner Auseinandersetzung mit Daumenkinos beschäftige ich mich hauptsächlich mit dokumentarisch entstehenden Porträts von Menschen. Die 36 Bilder, aus denen meine Daumenkinos bestehen und die im Kino oder im Fernsehen in 1,5 Sekunden an uns vorbeiziehen würden, entfalten im Daumenkino durch ihre Wiederholbarkeit und den Umstand, dass die Leerstellen zwischen den Bildern spürbar sind und (unbewusst) ergänzt werden müssen, eine ungeahnte Kraft und Poesie.


© Volker Gerling

Das heißt, Du hast Dich ursprünglich fürs Filmemachen interessiert? Hat die Fotografie vor der Entdeckung des Daumenkinos für Dich schon eine Rolle gespielt?

Eigentlich wollte ich Filmregisseur werden und habe schon zu Schulzeiten Kurzfilme auf Super-8-Material gedreht. Die Fotografie hat aber tatsächlich immer schon eine große Rolle für mich gespielt. Ich habe mit zehn Jahren meine erste Fotokamera bekommen und schon als Kind intensiv fotografiert. Über die Fotografie bin ich schließlich zum Film gekommen, weil ich glaubte, der Film kann noch mehr als die Fotografie.

Interessant, dann bist Du vom Foto zum Film gekommen und von dort wieder zum Foto, wenn man es so betrachtet. Wie genau sah denn die Begegnung mit dem Daumenkino aus, die Du als Initialzündung betrachten würdest? Gab es diesen Moment? Und wie hat sich von dort aus Deine persönliche Form des Daumenkinos entwickelt?

Während meines Studiums an der Filmhochschule hatte ich die Idee, meine motorisiere Spiegelreflexkamera (Nikon F3) als Filmkamera zu benutzen. Ich habe einiges ausprobiert und schließlich festgestellt, dass es sehr spannend wird, wenn ich die Menschen damit überrasche, dass ich sie für ein Daumenkino 36 Mal hintereinander fotografiere.

So rüttele ich meine Protagonisten aus ihren Posen heraus und es entstehen sehr authentische, wahrhaftige Momente. Diese sind der Kern meiner Arbeit. Irgendwann habe ich dann festgestellt, dass es wichtig ist, auch die Geschichten der Menschen, die ich fotografiere, zu erzählen.


© Volker Gerling

Diese Geschichten sind ja sehr vielfältig. Welche Motive, Szenen und Menschen hältst Du eigentlich fest und welche nicht? Wie triffst Du Deine Auswahl in einer Welt, die ja eigentlich voll ist von besonderen Momenten?

Eigentlich ist es eher so, dass die Menschen mich auswählen und nicht ich sie. Die offenen und neugierigen Menschen sprechen mich an, wenn ich vorbeilaufe. Wenn ich dann im Gepräch merke, dass der Mensch mich ebenfalls interessiert und dass es eine Geschichte zu dem Menschen gibt, die ich erzählenswert finde, frage ich, ob ich sie oder ihn fotografieren darf.

Die Menschen, die Dich ansprechen, tun das ja wahrscheinlich, weil Du auf Deinen Wanderungen den Bauchladen mit Daumenkinos umgeschnallt hast. Wie kann man sich Deine Wanderungen vorstellen? Und was sind Dein Konzept und deine Motivation dahinter?

Das Konzept meiner Wanderung ist, dass ich ohne eigenes Geld zu Fuß unterwegs bin und nur davon lebe, dass sich die Menschen meine Daumenkinoausstellung ansehen können, die ich auf einem Bauchladen vor mir hertrage. Zu sehen sind Portraits von Menschen, denen ich auf vorherigen Wanderschaften begegnet bin. So entsteht immer Neues aus Altem.

Mein Kerninteresse gilt Menschen und ich habe eine sehr große Neugierde dem Leben gegenüber. Wenn man wochenlang zu Fuß unterwegs ist, kommt man sich selbst sehr nah. Es gibt aber auch Menschen, die sich mir gegenüber sehr öffnen; vielleicht, weil sie wissen, dass sie mich wahrscheinlich nie wieder sehen werden.


© Volker Gerling

Du sagst, dass man sich selbst sehr nah kommt. Das ist eine sehr persönliche Frage: Was macht der Kopf in der Zeit so, womit beschäftigt der sich?

Es ist so, dass ich beim Laufen nicht bewusst über etwas nachdenke oder gar nachgrüble, sondern eher so, dass Gedanken einfach entstehen. Sie steigen aus dem Unterbewusstsein auf und sinken dann wieder ab, um Platz zu machen für andere Gedanken. Das ist ein sehr angenehmer, manchmal fast meditativer Zustand.

Im letzten Sommer habe ich auch Dein Buch „Der Mantel der Eigenzeit. Gedanken zum fotografischen Daumenkino“ gelesen. Zusammen mit der Erinnerung an deine Daumenkinos im Hinterkopf war ich erstaunt, wie viel weitere Tiefe sie durch die Lektüre gewinnen. Neben eher philosophischen Überlegungen machst Du auch einen Schlenker zur Physik. Wie kam es zur Idee und schließlich zum fertigen Buch?

Ich habe schon bald nach dem Beginn meiner Beschäftigung mit Daumenkinos darüber nachgedacht, warum Daumenkinos so faszinierend sind. Ich habe festgestellt, dass für mich ein Großteil der Faszination daher rührt, dass die Zeit im Daumenkino nichts Starres ist, sondern flexibel wird.

Und da kommt die Physik ins Spiel. Denn diese sagt ja, dass die Zeit keine absolute Naturkonstante ist, sondern mit dem Raum zur Raumzeit verschmilzt und von daher dehnbar und stauchbar ist, ähnlich und sehr grob vereinfacht wie wir es im Daumenkino erleben. Und so kommt dann der Begriff der Eigenzeit ins Spiel, der sehr wichtig für mich ist.

Wer die Möglichkeit hat, nach seiner eigenen Zeit zu leben, nach seinem eigenen Rhythmus oder dem der Natur, der lebt gesünder und glücklicher als der, dessen Lebenszeit und Lebensrhythmus ausschließlich von Uhren bestimmt wird. Womit sich der Kreis zur Wanderschaft wieder schließt.

Das wollte ich gern zu Papier bringen und da traf es sicht gut, dass mein Professor an der Filmhochschule erlaubte, über das Daumenkino zu schreiben. Aus der Diplomarbeit entstand dann das Buch „Der Mantel der Eigenzeit“.

Kamera: Manuel Fenn, Schnitt: Antonia Fenn
© Volker Gerling. Dauer: 3:49

Nach seinem eigenen Rhythmus leben, das klingt toll. Funktioniert das auch finanziell in Deiner Situation? Wie lebst Du von der Daumenkinographie?

Finanziell nach seinem eigenen Rhythmus leben, das klingt verlockend. Das hieße ja, dass man sich immer dann einen 100-Euro-Schein vom Geldbaum pflückt, wenn man gerade einen gebrauchen kann! Aber Spaß beiseite.

Da ich in meinem Leben, das ich jenseits der Wanderschaften führe, Miete bezahle, Kinder habe etc., bin ich, wie jeder andere Mensch auch, darauf angewiesen, halbwegs regelmäßig Geld zu verdienen. Bis jetzt klappt das erfreulicherweise durch meine Bühnenauftritte und den Verkauf der gedruckten Daumenkinos.

Bühnenauftritte ist ein gutes Stichwort. In welchen Kontexten kann man Dich erleben und kann man Dich auch „buchen“?

Meistens zeige ich mein Bühnenprogramm in kleineren Theatern im Rahmen von Theaterfestivals. Manchmal auch in Kinos. Eigentlich brauche ich nur einen dunklen Raum und eine weiße Wand. Natürlich kann man mein Programm buchen, sehr gerne sogar!

© Franz Ritschel

Letzte Frage: Was für Pläne und Träume hast Du für die Zukunft Deiner Daumenkinographie?

Allzuweit will ich nicht nach vorne gucken. Zur Zeit schreibe ich ein Buch über meine Wanderschaften. Wenn das Buch fertig ist und ich sagen kann, dass ich damit zufrieden bin, wäre das ein Traum.

Vielen Dank, Volker!

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Das nächste Mal live erleben kann man Ausschnitte aus dem Programm vom 9. bis 15. Juli beim Festival Schaubudensommer in Dresden. Auf der Webseite von Volker Gerling könnt Ihr weiterstöbern und seinen Newsletter bestellen, um über die nächsten Auftritte informiert zu werden.

Zum Abschluss noch ein ARTE Portrait über Volker Gerling, in dem Ihr noch mehr seiner Daumenkinos in Aktion sehen könnt, dazu Kommentare und Anekdoten von Volker zur Entstehungsgeschichte und mehr über seine Philosophie und seine Wanderungen. Dauer: 6:15

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