28. Mai 2012 Lesezeit: ~3 Minuten

Gedanken zur Menschenfotografie

Da sind sie, die Menschen, die in meiner Küche Platz nahmen, ja, sich ihren Platz behaupteten. Sie sind gebannt, ihre Gesichter, ihre Gesten. Werden betrachtet, manchmal begutachtet und auch wieder vergessen.

Jedem Gesicht kann ich eine Geschichte zuweisen, ein Gefühl, einen Moment. Wir haben für drei oder mehr Stunden das Leben geteilt. Dabei waren wir uns entweder fremd und beäugten uns wie schüchterne Kinder oder aber fassten uns an den Händen wie Freunde und redeten die halbe Nacht.

Einige von ihnen sind ein Teil meines Lebens geworden, andere sind hinausgeflogen und kamen niemals wieder. Aber allen wohnt nun etwas inne, das eine Bild, das eine Bild, das wir zusammen bannten, auf das Negativ, im Kopf und im Herzen.

Nimm Dich in Acht davor, wen Du zur Tür herein lässt, hat mal meine Mutter zu mir gesagt. Da war ich ein Kind und hatte noch keine Angst vor der Fremdheit.

Doch der Mensch war und ist mir noch immer das größte Geheimnis. Wovon träumt er nur, was reißt ihn nieder, was verbirgt er vor sich selbst? Und immer, wenn ich aufs Neue die Tür öffne, bin ich gespannt, wer da zu mir hereinkommt.

Dem Menschenbild kann man sich nicht entziehen. Überall schwappt es einem entgegen. Beim Durchblättern der Zeitschriften schauen sie uns an, fahren an Bussen vorbei, glitzern von großen Werbetafeln oder verstecken sich in rauchigen Kneipen oder kahlen Galerien. Die einen werden bezahlt, für ihr Gesicht, für ihre Show, für ihre Oberfläche.

Andere werden hervorgelockt und festgehalten. Manch andere sind nicht fassbar, selbst mit der besten, tollsten und teuersten Kamera der Welt, entschwinden sie und was bleibt ist nur ein Gesicht.

Was macht den Charakter eines Menschenbildes aus? Kann man die Seele des Menschen wirklich bloßlegen und bannen? Kann man ihn festhalten und die Zeit damit verlangsamen? Wird mir der Charakter eines Menschen bewusst, wenn ich sein Bildnis betrachte?

Es gibt Bilder, deren Portraitierte habe ich in der Realität nicht erkannt, wenn sie neben mir standen. Nicht, weil das Gesicht des Bildes nachträglich verändert wurde, sondern weil der Ausdruck ein anderer war. Ein Ausdruck vollkommener Offenheit, Vertrautheit und Hingabe. Etwas, das sonst nur ausgewählte Personen bemerken können.

Wenn ich U-Bahn fahre, beobachte ich gern die Menschen darin. Die meisten wirken wie farblose Gestalten. Ihre Gesichter sind verschlossen, ihre Gestik sagt mir: Lass mich in Ruhe. Mein Blick perlt an ihnen ab. Und dann gibt es die wenigen anderen, voller Offenheit, Schönheit und Klarheit. Ich kann dann nicht wegsehen, muss hinsehen, bewundere sie für ihr Dasein. Und diese Klarheit ist es, die ich in den Menschen suche, denn sie ist etwas Besonderes. Denn dann geht es nicht ums Verstecken oder Überzeugen, ums Spielen oder so tun als ob.

Dann geht es um etwas Essentielles, etwas so Unfassbares, dass ich manchmal nicht glauben kann, es mit einer Kamera überhaupt greifen zu können.

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Wie viel müssen der Fotograf und der Mensch geben, wenn sie Wahrhaftigkeit erschaffen wollen? Wie viel ihres Wesens ist überhaupt fassbar auf einem Stück Negativ oder in einer Datei?

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