18. Mai 2012 Lesezeit: ~13 Minuten

Im Gespräch mit Lee Jeffries

Als ich vor einigen Wochen das erste Mal über die Arbeiten von Lee Jeffries stolperte, war ich zwar sofort fasziniert von der Nähe zu den Portraitierten, den eindringlichen Emotionen und dem kunstvollen Einsatz von schwarz und weiß –

aber erst, als er zu Spenden für eine Wohltätigkeitsorganisation aufrief, wurde ich wirklich hellhörig und beschäftigte mich eingehender mit den Texten unter seinen Bildern, die mehr über die Menschen erzählen, die er uns auf seine Weise zeigt.

Latoria. Miami. Wahrscheinlich mein Lieblingsbild für pure Dokumentation. Es wurde von Latoria akzeptiert, die mich so nah heranließ. Nicht gestellt oder posiert war dies ein Portrait, das – nun, ja – einfach alles zusammenfasst, was ihr momentanes Leben ist.

Ich muss sagen, dass ich ein sehr visueller Mensch bin. Obwohl mich Persönlichkeiten und Geschichten begeistern, macht mich meistens ein herausragendes Bild allein schon glücklich. Ich fange erst zu lesen an, wenn mich etwas stutzig macht.

Hinter den Arbeiten von Lee Jeffries verbirgt sich jemand, dem es gelingt, die Würde der vom hochsensiblen gesellschaftlichen Thema der Obdachlosigkeit betroffenen Menschen zu seinem Hauptanliegen zu machen und gleichzeitig diese Portraits auf künstlerische Weise zu betrachten, zu bearbeiten und sie für seine Sache zu nutzen.

Hallo Lee. Danke, dass Du Dir die Zeit für ein Interview mit uns nimmst. Erzähl uns doch zuerst einmal etwas über Dich. Wer bist Du, was machst Du?

Also, mein Name ist Lee Jeffries. Ich bin 41 Jahre alt und lebe in Manchester im Vereinigten Königreich. Ich zahle meine Rechnungen, indem ich in meiner Vollzeitbeschäftigung als Buchhalter arbeite, aber irgendetwas muss schief gegangen sein, denn viel lieber wäre ich ein Fotograf.

Salvation. Eine Zeit, in der die fotografischen Götter wirklich zu mir herabgelächelt haben. Ich hatte mich gerade mit einer Coke auf einen Bordstein in Skid Row gesetzt. Er tauchte hinter mir auf und da ich wusste, dass ich die Kamera in der Hand hatte, drehte ich mich um und schoss mehrere Bilder mit der D3. Ich wünschte, dass ich sagen könnte, dass das Gebäude der Heilsarmee im Hintergrund Absicht war, aber es war gänzlich die Arbeit derer, die auf mich runterschauten.

Wann begann Deine Leidenschaft für die Fotografie und wie hat sie sich entwickelt?

Zurückblickend war ich wohl zum ersten Mal mit 14 Jahren im Geschichtsunterricht der Fotografie wirklich ausgesetzt. Unsere Lehrerin zeigte uns Bilder von alten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Sie erklärte, dass es immer etwas Eindringliches in ihren Augen gab. Diese Begebenheit hat einen tiefen Nachhall in mir erzeugt.

Ich habe nie die Wirkung vergessen, die es auf mich hatte, aber es hat lange gedauert, bis erst vor Kurzem, als ich eine Ausgabe von „Inferno“* gekauft bekam und diese früher im Unterricht gesehenen Bilder zusammen mit denen von James Nachtwey eine Saite in mir berührt haben.

Die Geschichten, diese unglaublich humanitären Geschichten, die sie erzählen, entzündeten bei mir den Wunsch und das Interesse, es zu versuchen und meine eigenen Geschichten zu erzählen. Der Funke war vollkommen journalistisch. Die Leidenschaft religiös. Die weitere Entwicklung eine Kombination aus beidem.

Skid Row. Los Angeles. Ein Bild, das ein Synonym für Lee Jeffries ist.

Wie hast Du denn mit so großen Idolen wie Nachtwey im Hinterkopf angefangen, Deine eigenen Werke zu kreieren? Scheinen sie am Anfang nicht vollkommen unerreichbar zu sein?

Es war schwierig. Als Fotografen und Künstler entwickeln wir uns alle und wenn ich zu einigen meiner frühen Bilder zurückblicke, habe ich die Tendenz, zu erschaudern! Ich denke, die größte Barriere, die ich überwand, war die Angst. Als ich das erste Mal nach Skid Row in Los Angeles fuhr, war ich fast zu starr vor Angst, um aus dem Auto auszusteigen.

Ich denke, dass das eine normale Reaktion ist. Ich war erstaunt darüber, wie ruhig ich war, als ich endlich draußen war. Ich wurde jemand, den ich fast nicht wiedererkannte. Ruhig und geduldig. Mitfühlend und verständnisvoll. Ich fühlte mich als ein Teil der Gemeinde und genoss es, dort zu sein mit all den Leuten, die der Rest der Gesellschaft vergessen hatte.

Sogar bis heute vermisse ich es noch, dort zu sein. Ich vermisse es, draußen auf den Straßen zu sein. Nachtweys Bilder waren der Funke – aber ich musste erst meine eigene Fähigkeit, menschlich zu sein, bewältigen, von der ich nun fühle, dass sie unmöglich zu begreifen war, bevor all das anfing.

Overtown. Miami. Sonderbar und zweifellos faszinierend. Ich saß sogar im Auto und fuhr weg, als ich ihn im Rückspiegel bemerkte. Natürlich drehte ich um für ein Gespräch. Sehr ausdrucksstark und ich machte mehr als zwanzig Bilder, jedes für sich ein gewinnendes Bild. Ich denke, dass man als Fotograf sehr selektiv mit seinen eigenen Arbeiten umgehen und nur die allerbeste einer Serie auswählen sollte.

Wie würdest Du Deine Fotografie beschreiben – was sind wiederkehrende Motive und Themen, was möchtest Du zeigen?

Ich habe schon bei einigen Anlässen versucht, meine fotografische Philosophie zu beschreiben, sie kommt aber immer irgendwie zerknirscht rüber. Allerdings bin ich über eine Beschreibung gestolpert, die jemand anderes verfasst hat und die mich förmlich umgehauen hat. Es war, als hätte er es komplett verstanden – mich verstanden – als hätte er die Emotionen gespürt, die ich spüre, wenn ich diese Bilder mache. Diese richtigen Worte sind die folgenden:

Ich bitte um Nachsicht, aber diese Arbeiten sind absolut kein Fotojournalismus. Sie sind auch nicht als Portraits gedacht. Sondern das ist religiöse oder spirituelle Ikonografie. Das sind sehr kraftvolle Arbeiten.

Jeffries hat diesen Leuten etwas mehr gegeben als nur persönliche Würde. Er gab ihnen ein Licht in ihren Augen, das Transzendenz zeigt, sozusagen ein Lichtschimmer an den Toren von Eden. Die Klarheit in ihren Augen ist einzigartig anzusehen, als wäre Gott irgendwo da drinnen.

Er machte aus diesen Leuten mehr als nur alte, gebrochene Obdachlose, die faul auf eine kleine Gabe von einem höflichen und aufmerksamen Firmenvertreter warten. Er flößte ihnen Licht ein, nicht Dunkelheit. Sogar dem blinden Mann fließt Licht aus seinen nicht sehenden Augen.

Ich denke, dass Jeffries mit seiner Kunst beabsichtigt, diese Leute zu ehren – nicht, sie zu bemitleiden. Er ehrt diese Leute, indem er ihren Bildnissen eine größere Bedeutung gibt. Er gibt ihnen einen religiösen, spirituellen Stellenwert. Er tränkt sie mit der ikonischen Seele der Humanität.

Ich denke, das ist es, was er versucht, zumindest zu einem bestimmten Grad.

— Jack Conran. Rangefinder Forum. 2011.

5th. Downtown. Miami. Eine Aufnahme, die all die religiösen Elemente, die offensichtlichen sowie die metaphysischen, verkörpert, nach denen ich in meiner Bildwelt strebe. Ruhig und zugleich kraftvoll ist es wirklich ein persönlicher Favorit.

Wie wählst Du aus, wen Du portratierst, was verbindet Dich mit den Menschen?

Mir wurde gesagt, dass ich einen sechsten Sinn für Traurigkeit hätte, aber für mich ist es viel mehr eine religiöse und menschliche Erfahrung. Ich kann stundenlang oder sogar tagelang herumlaufen und nichts sehen. Plötzlich, scheinbar aus dem Nichts, bin ich mit einem Blick oder einer Emotion konfrontiert, die meistens von den Augen der Person ausgeht, die mich aus meinem Trott gerissen hat.

Während mein Herz etwas schneller schlägt, fühle ich mich beinahe dazu verpflichtet, diese Erfahrung mit der Kamera festzuhalten. Es ist etwas quälend Verletzendes daran, Zeuge von Traurigkeit in den Augen eines Fremden zu werden und das ist es, was die Verbindung antreibt und das Mitgefühl erzeugt.

Rome. Das erste Mal, dass ich Zeuge von Tränen wurde, die jemand weinte, den ich fotografierte. Der erste Instinkt ist, die Kamera herunterzunehmen, was ich auch tat, aber irgendwie und ich kann mich nicht erinnern warum und wie, wartete ich noch für diese eine Aufnahme ab. Die Kraft jedes Bildes ist seine Emotion.

Zuerst dachte ich, dass Dein Stil ein schwarzweißer ist, aber dann habe ich auch ein paar farbige Bilder entdeckt. Was hat es mit schwarzweiß und Farben bei Dir auf sich?

Während ich mir nicht vorgenommen hatte, nur schwarzweiße Bilder zu produzieren, nehme ich an, dass sich mein Prozess einfach in dieser Richtung entwickelt hat. Ich benutze Farben, wenn die Aufnahme es verlangt, gehe aber ausnahmslos zurück zu schwarz und weiß, weil ich fühle, dass es sich für die Thematik und meinen Stil gleichermaßen am besten eignet.

Rome. Aufgenommen auf den Straßen von Trastevere. Wieder ist hier nichts gestellt, ich war nur nah genug dran, um auf das zu reagieren, was vor mir geschah. Es ist wichtig, in der Lage zu sein, eine Aufnahme in der Nachbearbeitung ebenso zu interpretieren, wie sie überhaupt zu machen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich sie so bearbeitet hatte und nun schüttelt mich ihr Symbolismus jedes Mal, wenn ich sie ansehe.

Du unterstützt ein Projekt namens Centrepoint. Kannst Du uns darüber etwas erzählen, wie bist Du eingebunden und warum?

Centrepoint ist eine im Vereinigten Königreich angesiedelte Wohltätigkeitsorganisation, die obdachlosen Menschen hilft und einen besonderen Schwerpunkt auf unter 25-Jährige gesetzt hat. Prinz William ist ihr Schirmherr.

Ich begann, mich dort zu engagieren, nachdem ich Michelle getroffen hatte, ein 23 Jahre altes, obdachloses Mädchen aus Schottland, die sich auf den Straßen von London wiederfand. Familienzerwürfnisse, Ausschlüsse aus der Schule, Übergangsversorgungen sind nur ein paar von vielen Gründen, warum jedes Jahr über 80.000 junge Menschen im Vereinigten Königreich Obdachlosigkeit erleben müssen.

Michelle. Obdachlose in London. Ich hatte inzwischen zwei Mal das Vergnügen, sie zu treffen. Beim zweiten Mal ließ sie mich für einige Stunden in ihre Welt ein. Ich werde nie ihre Schönheit und ihren Sinn für Humor vergessen.

Michelles Schönheit hat mich berührt. Ihre kristallblauen Augen, die ihre schmutzigen Kleider und Finger Lügen strafen. Menschen wie Michelle brauchen Organisationen wie Centrepoint, sie sind vielleicht die einzige handfeste Möglichkeit, von der Straße weg zu kommen.

Ich habe eingewilligt, mich besonders in einem speziellen Projekt zu beteiligen: Dort bringe ich einigen der Leute, denen sie helfen, den Umgang mit der Kamera bei. Die Hoffnung ist, so eine fotografische Ausstellung, ein Essay zu erhalten, wie Obdachlose andere Obdachlose durch das fotografische Medium wahrnehmen.

George. Ich habe dieses Bild ausgewählt wegen der einzelnen Elemente, die in diesem Portrait zusammenkommen, um ein Ganzes zu formen. Die Muster auf dem Kopf, die zu den Haaren führen und dort gespiegelt werden und dann zurück entlang der Narbe auf der Wange. Meiner Meinung nach ist es ein visuelles Gedicht.

Was sind Deine Pläne und Träume für die Zukunft? Hast Du andere Projekte im Kopf?

Mein unmittelbarer Plan ist es, weiterhin Fotos zu machen, die Menschen berühren. Die genug Kraft haben, um die Wahrnehmung von Obdachlosen etwas zu verändern und den Betrachter dazu anregen, deshalb etwas Positives zu tun.

Wie jeder urbane Fotograf bin ich am glücklichsten, wen ich draußen auf den Straßen unterwegs bin. Die Gerüche, die Menschen, darum geht es. Vielleicht treffe ich Dich ja irgendwann einmal dort?

Das wäre großartig. Vielen Dank für dieses Interview, Lee, und ich wünsche Dir für Deine Zukunft alles Gute!

Andy. Ich verbrachte mehr als vier Stunden mit Andy, bevor ich überaupt erwähnte, ihn fotografieren zu wollen. Wir hatten ein sehr seltsames Gespräch. Gott, telepathisch sein… überhaupt alles. Seine Dämonen sind offensichtlich.

Lees Arbeiten könnt Ihr bei flickr und 500px sehen, außerdem twittert er.

Auf der Plattform Virgin Money Giving hat Lee Jeffries eine Sammlung für Centrepoint gestartet, die Ihr unterstützen könnt. Unter allen Spendern wird ein grpßer Schwarzweißdruck des Portraits von Michelle aus einer limitierten Auflage verlost.

Das Interview habe ich mit Lee Jeffries auf Englisch geführt und anschließend übersetzt.

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