14. Mai 2012 Lesezeit: ~9 Minuten

Bestandsaufnahme

Nach so vielen Jahren, in denen ich jetzt schon fotografiere, ist die Lehrzeit, die ich mir einmal gesetzt hatte, immer noch lange nicht vorbei. Ich bin immer noch, fast Tag für Tag, auf der Suche nach Bildern, die mir etwas bedeuten könnten, bin immer noch hungrig, nie zufrieden.


Allerheiligen, San Adriá de Besós, Spanien

Wie vor vielen Jahren, als ich zum ersten Mal zu einer langen Reise aufgebrochen bin und die ich mir eigentlich als eine Art Abschluss meiner fotografischen Ausbildungszeit vorgestellt hatte. Ein Irrtum. Ich erinnere mich noch an den Hafenkai in Huelva, im äußersten Südwesten Spaniens. Der Atlantik war, wie so oft im Winter, unruhig und aufgewühlt, dunkelgraue Wellen, die in regelmäßigen Intervallen gegen die Betonmauern rollen, unaufhörlich.

Es war einen Tag vor meiner Abreise, einen Tag bevor ich einen Überlandbus nach Madrid bestieg, um von dort am nächsten Tag nach Abidjan, an der Elfenbeinküste, zu fliegen. Im Gepäck eine Hose, ein paar Hemden, ungefähr 70 Schwarzweißfilme und zwei verbeulte Nikon FM2. Acht Wochen, allein, durch unbekannte Länder, nur sehen und schauen.


Bordell, La Línea de la Concepción, Spanien

Ein paar Tage zuvor stand ich am offenen Grab meines geliebten Großvaters, im kalten oberbayrischen Winter. Und oft sehe ich mich noch immer dort stehen. Bleich, käsig, in einem schweren, dunkelblauen Mantel, den er mir noch geschenkt hatte, zwischen Leuten, von denen ich viele überhaupt noch nie gesehen hatte. Eine Nelke werfe ich ins Grab, dann Erde. Alles wie in Zeitlupe, ich wollte nicht weinen, und dann, noch bevor der Leichenschmaus zu Ende war, war ich in Gedanken bereits weit weg.


Timisoara, Rumänien


Waisenhaus, Timisoara, Rumänien

Dieser Moment ist in meinem Hirn eingebrannt, wie sich Licht in Silberkristalle auf einen Filmstreifen brennt. Es ist wie in der spielerischen Foto-Falle Henri Lartigues, die Paul Virilio in seinem Essay „Esthétique de la disparition“ zitiert: Als Kind, wenn er etwas gesehen habe, das ihm gefallen hätte, hätte er die Augen geschlossen bis er nur noch das gesehen hatte, was er sehen wollte. Dann, so Virilio weiter, drehte sich der kleine Henri ganz schnell um die eigene Achse – und das Bild war gespeichert!

Und unter Zuhilfenahme der fotografischen Technik können diese Bilder konserviert werden, dann hat man auf einmal Hunderte oder Tausende alte Fotografien um sich liegen, Fragmente des eigenen Lebens und des Lebens der anderen.


Psychiatrische Klinik, Gavodnija, Rumänien

Ich sehe die alten Fotografien meiner Reisen, sehe aufs Neue, höre noch einmal, was mir damals in den Ohren klang, rieche sogar und kann mir in Erinnerung rufen, was ich in diesen Momenten gefühlt habe, an weit entfernten Orten, nicht nur gemessen in Kilometern, vor allem weit entfernt, in einer anderen Zeit, eine unmessbare Distanz, unvorstellbar.

Das Eigenartigste daran ist, dass manchmal die alten Bilder Gefühle hervorrufen, die im Nachhinein noch intensiver scheinen, konzentrierter. Damals, nach mehr als zehn verschiedenen Ländern in weniger als 360 Tagen, habe ich meine mühsam zusammengelesene Sicht auf die Welt wieder verloren.

Was bleibt, ist eine eher gebrochene Zeitwahrnehmung, irgendwie brüchig oder gebrochen, ein ständiges Kommen und Gehen von Zukünftigem und Vergangenem, Gewesenes und Hypothetisches vermischend, während der Augenblick, das Jetzt, sich wie Sand zwischen den Fingern zerreiben lässt. Was bleibt, festgehalten in einer Fotografie, ist ein Moment, der dem unerbittlichen Lauf der Zeit entrissen ist, eigentlich mehr ein Verdienst der Silberhalogene auf der Filmemulsion als mein eigener.


Karwoche, Arcos de la Frontera, Spanien

Etwas Schönes oder etwas Abstoßendes, oder einfach etwas Absurdes erregt meine Aufmerksamkeit und ich drücke auf den Auslöser – Schönheit verursacht Schmerz, sagte einmal Ernst Haas und wirklich: Schönes zu sehen und zu erleben, kann zu einer leidvollen und schmerzhaften Erfahrung werden, weil es zu schnell vergeht.


Karneval, Ituren, Spanien

Ich war mir meiner selbst noch nie besonders sicher und oft auch nicht dessen, was ich eigentlich mit meinen Bildern erzählen will. Zuerst einmal sind es einfach meine Bilder. Weil ich dort war, weil ich mit diesen Menschen gesprochen habe oder sie mich angesehen haben.

Meist flüchtige Bekanntschaften, viele blieben Unbekannte, manche wenige wurden zu Weggefährten und noch weniger sogar zu Freunden. Vielen war ich gleichgültig, ich habe viele liebevolle und selbstlose Menschen getroffen. Auch auf Hass und Ablehnung bin ich gestoßen, natürlich. Aber eines haben sie alle gemeinsam: Jetzt sind sie alle Darsteller in meinem kleinen Welttheater.


Predigt, Luampa, Zambia, Afrika

Es ist nicht die Frage, ob die Fotografie die Welt verändern kann. Wir schaffen Bilder, Bilder von Bildern. Nicht mehr, nicht weniger. Interessant für einige, langweilig für andere, harmlos oder aufwühlend. Aber es ist niemals die Reproduktion einer objektiven Realität, es ist einfach eine Wahrnehmung, einzigartig und individuell. Die subjektive Wahrnehmung des Menschen, der fotografiert. Nichts weiter.

Der Anspruch, die Krankheiten unserer Gesellschaft zu erfassen, zu dokumentieren, scheint ein von vornherein sinnloses Unterfangen zu sein, unmöglich, angesichts des irreversibel fortgeschrittenen Siechtums und der überwältigenden Komplexität aller unserer Missstände.


Links: Abschiebezelle, Gefängnis Málaga, Spanien
Rechts: Brothel, Beira, Mocambique

Eine Fotografie der angehäuften toten Körper in der Leichenhalle des Krankenhauses in Bamako, Mali. Hätte ich dort fotografieren sollen? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe es nicht gemacht. An diesem Tag starben 119 Menschen an der Meningitis-Epidemie, die das Land in Angst versetzte.

Die Ärzte und Krankenschwestern bewegten sich wie stumme Schatten durch die stinkenden Korridore der Krankenstationen. Ihnen fehlte die Kraft, vor Erschöpfung konnten sie kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen. Ich habe es nur beobachtet, niemand hatte mich gerufen und niemand hat von meiner Anwesenheit Notiz genommen. An diesem Tag habe ich nicht nur tote Kinder, Frauen und Männer gesehen, ich habe geglaubt, dass ich gesehen habe, wie das Leben selbst stirbt, ohne viel Aufregung, am Ende ohne Gegenwehr.

In der Nacht dann wieder im Bus, das Gesicht an die Scheibe gedrückt, neben mir eine junge, krank aussehende Frau mit ihrem Säugling an der Brust. Süßer Gestank und alle Geräusche wie von weit weg. Die Fahrt durch trockenes Sahelland, ausgedörrte Felder, hier und da eine Hütte, aus der schwaches Licht scheint, ich selbst verloren in einem irreal scheinenden Film, der auf der Scheibe abläuft.

Ab und zu werden wir langsamer, schwarze Schatten tauchen aus dem Nichts am Rand der Fahrbahn auf und bieten Wegzehrung an, Bananen und hartgekochte Eier. Der Schein einiger Lagerfeuer und ein paar flackernde Lichter, ich war mittendrin und doch schien es mir, als würde ich alles aus der Ferne betrachten.


Krankenhaus-Innenhof, Luampa, Zambia


AIDS-Patientin, Luampa, Zambia

Afrika. Das Schlagen des Mörsers, das die Stille jedes Morgens hier am Äquator bricht. Diesige Morgen, feucht, warm, getränkt von einem Geruch, den man nicht wieder vergessen kann, nach Maniok und reifen Früchten, süß, ausladend, Schweiß, auch bitter, wie nach Wurzeln. Sex und Schläfrigkeit. Ich erinnere mich gerne an Marie Therèse, die bei mir schlief, an ihre zuckenden Mundwinkel und die im schwachen Morgenlicht glänzenden Perlen auf ihrer Stirn.

Flugzeuge, Schiffe, Busse oder Eisenbahnwaggons. Zimmer in billigen Pensionen, schnelles Leben und glückliche Momente, die aufblitzen und vergehen wie Sternschnuppen am Sommerhimmel. Freude und Traurigkeit, Hoffnung und Verzweiflung. Blicke, Gesten, Geräusche und Gefühle. Intensität. Reine Energie, alles komprimiert, ein Jahr in 0,66 Sekunden für die Ewigkeit. Eingefrorene Bewegung, erstarrte Szenen, lebende Materie, die vergeht und Lebloses, das sich plötzlich wieder mit Leben füllt.

Jedes Negativ, jede Fotografie ist wie ein Kerker oder ein Käfig, manchmal leer, manchmal darben darin unschuldige Opfer und manchmal auch wahre Bestien. Von was rede ich eigentlich? Hexerei? Fetisch? Oder einfach Besessenheit?


Tankstelle, Meerenge Gibraltar, Spanien


Prozession, Andújar, Spanien

Wieder zurück in Spanien, Granada, die Alhambra und der Sacromonte, alles zusammen auf wenigen Quadratmetern rund um ein Lagerfeuer in einer kleinen Wellblechsiedlung in San Adriá de Besós, einige Kilometer nördlich von Barcelona. Vom nächtlichen Treiben der Gitanos bleibt die kalte Asche am Morgen. Spielt doch noch einen Fandango, oder gib mir noch einen Schluck, noch eine Geschichte oder einen Witz, mehr Funken, mehr Rausch, nur noch nicht heimgehen.

Europa, Lourdes und seine Wunder, ein Irrenhaus in Rumänien, alles ist Transit, überall Grenzen, menschliche Katastrophen, alle unterwegs, viele auf der Flucht, oft ohne es zu wissen. Oft sehe ich mir meine alten Bilder an und reise zurück an all die Orte, an denen ich gewesen bin.

Und wenn ich es jemals bereue, ein bestimmtes Bild nicht gemacht zu haben, dann wäre es eine Aufnahme der Hände meines Großvaters, hart und wie versteinert von der Arbeit, gleichzeitig sanft, harmlos und verletzlich. Als ihn seine Kraft verließ, an einem sonst schrecklich ereignislosen Nachmittag in einem grauenhaften Krankenhaus, war ich noch bei ihm und wollte nur noch einmal seine Hand halten.