03. Mai 2012 Lesezeit: ~6 Minuten

Fotografische Traumsequenzen

Sie waren die Welt-auf-den-Kopf-Steller, die Hippies unter den Künstlern und meine Helden, die Surrealisten. Sie verbogen die Realität wie ein Zerrspiegel, verwischten Zeit und Raum und sind für mich wie Zauberer mit doppelten unsichtbaren Böden.

Sie sind meine Helden, weil sie mein Weltbild veränderten und mir zeigten, dass es in der Kunst keine Grenzen gibt, außer die, die man sich selbst auferlegt. Erst in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts fand die Fotografie dank des Surrealismus ihren Eintritt in die Kunstwelt.

Die Schuld daran schiebt man dem Fotografen J. A. Boiffard zu, Mitbegründer der Gruppe. Die Fotografie war plötzlich gar nicht mehr nur das Medium der realistischen Darstellung, denn nun machten die Gespinste im Kopf auch vor diesem doch vorher so starren Medium keinen Halt.

Die Grenzen waren durchbrochen, die verzerrte Realität hielt Einzug in die Fotografie. Es sind die Themen, die mich an die Bilder damals wie heute fesseln, die bildliche Auseinandersetzung mit Dingen, die wir nicht fassen können oder uns Angst machen, wie Wahnvorstellungen, (Alb-)Träume oder Metamorphosen. Sie haben meine Arbeiten stark beeinflusst und wenn ich mich in der Fotografenwelt so umschaue, dann nicht nur mich.

Die Verbildlichung dieser Themen erwartet regelrecht, fotografische als auch manchmal moralische Grundsätze über den Haufen zu werfen. Roger Ballen inszenierte beispielsweise Bilder mit behinderten Menschen, dafür bekam er Anerkennung, musste aber gleichzeitig auch viel Kritik einstecken. Denn es kam die Frage auf, ob man Menschen mit Behinderungen kostümieren und fotografisch „vorführen“ darf.

Francesca Woodmann erfand für sich eine sinnliche und zugleich verstörende Bildsprache. Und so könnte ich die Liste der Fotografen, die mich beeindrucken weiter und weiter fortsetzen.

Unschärfen, Verwacklungen oder Linienwirrwarr werden benutzt, um Geisteszustände darzustellen. Alles, was in der Realität seinen festen Platz hat, darf hier verschoben, verschmolzen und neu zusammengesetzt werden. Es wird mit Materialien experimentiert, in der Dunkelkammer, ob analog oder digital, verfremdet und verändert. Am Ende soll ein Bild entstehen, das die Welt des Betrachters auf den Kopf stellt oder zumindest ein Lächeln auf seinem Gesicht hinterlässt.

Ich habe mich im Netz nach den Erben der Surrealisten umgeschaut und die aufgespürten Fotografen außerdem gebeten, ein wenig über ihre Intentionen zu schreiben, solche Bilder zu machen. Interessant dabei war, dass fast keiner der Befragten seine Bilder im Kontext des Surrealismus sah und sie erst nach dem Zusenden meines bis dahin verfassten Artikels die Verbindungen erkannten.


Foto: Carmen Renn

Es gibt Momente, in denen betrete ich ein Gebäude oder einen Raum und ich werde von einer seltsamen, nur schwer zu definierenden Stimmung gefangengenommen. Oder ich betrachte alte Familienfotos und es tun sich in mir andere Welten auf. Oder ein Traum hallt noch lange nach dem Aufwachen in mir nach – um solche Gefühle geht es mir in meinen Bildern. Gefühle, die man nicht unmittelbar mit dem Verstand erklären kann, denen kein wirkliches Ereignis vorausgeht, die einfach kommen und manchmal auch genauso schnell wieder vergehen, aber dennoch großes Gewicht haben. In meinen Bildern versuche ich, solche Stimmungen sichtbar zu machen und sie auf diesem Wege weiterleben zu lassen…

Die traumtänzerischen Bilder und das eigene Bildermachen solcher, wie es Carmen Renn beschreibt, sind der Grund, warum ich diesen Zweig der Fotografie so sehr liebe. Die Fotografie ist dann neben dem Selbstbildnis auch das spielerische Verknüpfen neuer Verbindungen im Hirn. Eine Erweiterung des Sehens und Fühlens.


Foto: Ingrid Luquet-Gad

Indem ich artfremde Elemente wie Text, Collagen oder Zeichnungen einbringe, beabsichtige ich, die Fotografie als spezifisches Medium zu erforschen; zu hinterfragen, was eine Fotografie zu einer Fotografie macht. Es ist hauptsächlich ein Weg, eine theoretische Reflexion zu vertiefen, die von Kritikern wie Jean-François Chevrier inspiriert wurde, der der erste war, der von Fotografie wie von einem Gemälde sprach („tableau photographique“).

Bei vielen Gesprächen mit Fotografen hatte ich das Gefühl, dass der Begriff „Kunst“ sehr ungern im Bereich der Fotografie benutzt wird. Vielleicht, weil der Begriff einerseits inflationär eingesetzt wird und anderseits, weil man sich nicht selbst zu einem Künstler erheben will, man seine eigenen Arbeiten lieber vom Betrachter als Kunst bezeichnen lassen möchte.


Foto: Peter Runkewitz

Meine Intention solcher Bilder ist einfach beschrieben: Weil es sich dabei um Selbstportaits handelt, steckt in jedem dieser Bilder ein gewisser Teil Selbsttherapie. Es war kein wirklicher Entschluss, sondern mehr eine Fügung, dass ich solche Bilder meistens als Langzeitbelichtungen zwischen 15 und 30 Sekunden festhalte. Auf diese Weise wohnt den Fotos etwas vom Charakter des bewegten Bildes inne, weshalb ich den Serien meiner Selbstportraits dieser Art den übergeordneten Titel „short films“ gegeben habe. Weil die Konturen fehlen, ergibt sich deutlich mehr Spielraum für Interpretation und vor allem Gefühl, was die Geschichte des Bildes betrifft. Das liegt am Ende freilich jedoch im Auge des Betrachters; ich habe da selten wirkliche Vorstellungen, was ich beim Betrachter auslösen will.

Und oft ist es auch gut, wenn man einfach macht, anstatt darüber zu philosophieren, warum man es überhaupt macht. Im Moment des Tuns kann dann eine Kraft entweichen, die sich in starken Bildern widerspiegelt, wie es sich in den Bildern von Peter Runkewitz zeigt. Begonnen als ein Teil der Selbsttherapie wirken sie auf mich wie Teile eines Films von Lars von Trier. Bilder mit einer ganz eigenen Botschaft für den Betrachter, der sie dann weiterführt.

Die Fotografie als ein Werkzeug zu betrachten, um neue Gebilde darzustellen, das ist es, was mich immer wieder reizt und was ich ausloten möchte. Dabei haben die vielen Bilder, die ich tagtäglich sehe natürlich Einfluss auf meine Empfindungen, ob ich das nun will oder nicht. All das umgibt mich und ich nehme die vielen fotografischen Fäden um mich herum auf und versuche, sie neu zu verknüpfen. Mir macht dieses Spiel ungeheuer Spaß.

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