02. April 2012 Lesezeit: ~6 Minuten

Straßenfotografie mit dem Lensbaby II

Etwas vorab. Als wir im Vorfeld über Art und Inhalt eines solchen Themenartikels sprachen, bat Martin mich um eine „Mischung aus persönlichen Eindrücken, die den Großteil des Textes ausmachen und zusätzlich hier und da ein paar technische Feinheiten. Das passt dann gut zu unserem Stil als Magazin“.

Die „Passung“ war somit rasch gefunden – auch für mich sind eine ordentliche fotografische Ausrüstung und ein eingeübter Aufnahme- und Bearbeitungsworkflow kein Selbstzweck, sondern willkommene Werkzeuge eines schöpferischen Prozesses. Ursprünglich von der Malerei und Zeichnerei kommend, ist die Kamera für mich heute das, was früher Pinsel und Stift waren.

Und was hat es nun mit der Straßenfotografie mit dem Lensbaby auf sich?

Nun, in der Arbeit mit dem Lensbaby spürte ich (trotz oder gerade wegen aller anfänglichen Mühen mit der sperrigen Handhabung), dass dieses komische Teil es mir in bewegten oder emotionalen Situationen wie der Straßenfotografie in besonderer Weise ermöglichte, das äußerlich Gesehene und innerlich Empfundene in einem Bild zu vereinen.

Henri Cartier-Bresson hat diesen Aspekt in den folgenden zwei Zitaten wunderbar auf den Punkt gebracht:

• „Das eine Auge des Fotografen schaut weit geöffnet durch den Sucher, das andere, das geschlossene, blickt in die eigene Seele.“

• „Fotografieren heißt, den Atem anzuhalten, wenn sich im Augenblick der flüchtigen Wirkung all unsere Fähigkeiten vereinigen. Kopf, Auge und Herz müssen dabei auf eine Linie gebracht werden.“

Die Straßenfotografie mit dem Lensbaby zwingt mich insofern zu einer Gratwanderung zwischen äußerer und innerer Achtsamkeit. Hierbei alle Sinne zu öffnen, die verschiedenen Ebenen zu erfassen und gleichwohl Balance zu halten, deckt sich übrigens mit dem psychoanalytischen Begriff der „freischwebenden Aufmerksamkeit“, die mir in meinem Zweitberuf als ärztlicher Psychotherapeut tägliches Rüstzeug ist.

Zu den Bildern …

Straßenfotografie mit dem Lensbaby

Das erste Bild mit dem Titel „Entfremdet“ entstand an einem jener Tage, an denen das Wetter wieder einmal unwirtlich, die Stadt abweisend und die Leute gehetzt wirkten. Kein Verweilen, kein Kontakt schien möglich, alles strebte durcheinander oder wieder nach Hause. Die Menschen gingen, die Insignien der Konsumwelt blieben.

So die Zeichen sehend, suchte ich nach einer Möglichkeit, diese Atmosphäre in einem Bild auszudrücken bzw. zu übersetzen und fand sie in jenem Schaufensterbild mit Einblick und Durchblick. Und natürlich empfand ich stark mit jener kleinen, dunklen Gestalt, die sich hier zwischen Business-Outfit und Restgrün verlor.

Straßenfotografie mit dem Lensbaby

Das zweite Bild trägt den Titel „Mondäne Welt“. Jene zwei Schaufensterpuppen fielen mir auf, die so selbstbewusst das Kinn reckten und hüftstemmend ihre Körperformen betonten. „So ist die Werbepsychologie“, dachte ich spontan, „immer wieder unwirklich, dreist und doch so wirksam“.

Aber da war noch mehr – ein Blick in einen von der verwuselten Außenwelt getrennten Käfig. Ein Schonraum, eine Verheißung? Und was „denken und fühlen“ wohl die Schaufensterpuppen über uns „Außenweltler“? Haben sie Mitleid, spüren sie Verachtung, wollten sie mit uns tauschen?

Straßenfotografie mit dem Lensbaby

Das dritte Bild mit dem Titel „Untergang“ hat eine besondere Geschichte. Zu sehen ist der Abriss des Landesbankgebäudes als ein ursprünglich denkmalgeschütztes Objekt und damit, wie die politisch und wirtschaftlich Mächtigen die Weichen immer wieder nach ihrem Gusto stellen.

Aber auch hier gibt eine tiefere Ebene – erscheint die Ruine mit dem dunklen Himmel, dem schemenhaft erkennbaren Abrissbagger und den geduckten, mit ihren Helmen fast wie Soldaten wirkenden Bauarbeitern nicht auch wie ein Kriegsszenario? Ein alter Mann sprach mich bei der Aufnahme an. Er könne den Anblick schier nicht ertragen und komme doch nicht davon los.

Ihn überfluteten die Erinnerungen an die mit so vielen Opfern einhergehende Zerstörung der Stadt, die er als kleiner Junge in den letzten Kriegstagen miterlebte. So lehrte er mich, wie nahe an der Oberfläche traumatische Erinnerungen manchmal gespeichert sind.

Straßenfotografie mit dem Lensbaby

Das vierte Bild trägt den Titel „Volksfest“. Tatsächlich gab es an diesem Tag ein solches auf dem Platz vor dem Rathaus. Ich hatte dies im Bild schemenhaft angedeutet und den Spot auf die Figur an der Dachkante gerichtet: „Oh Gott, da steht einer und wird jetzt gleich… warum kümmert sich keiner der Untenstehenden? Ach, es ist ja nur eine Figur… “.

Die dortige Anbringung der Figur mit der sich bei vielen Betrachtern einstellenden bedrohlichen oder zwiespältigen Wirkung mag jenem „ganz besonderen Humor der Stadtplaner“ geschuldet sein, der schon im dritten Bild (Abriss des denkmalgeschützten Objekts) aufblitzte. Aber auch hier ging es mir um eine zweite Ebene, nämlich darum, inwieweit in unserer multimedialen, mit Katastrophenmeldungen überfütterten Gesellschaft das Schicksal des Einzelnen mehr sein kann als ein kurzfristiger Aufreger.

Straßenfotografie mit dem Lensbaby

Das fünfte und in diesem Rahmen letzte Bild verweist mit seinem Titel „Zur Sonne, zur Freiheit“ einerseits auf eine politische Heimat, andererseits auf in Frage gestellte und neu zu findende Ideale. Einstiegs- und Identifikationspunkt ist wieder der etwas verhuscht wirkende Mann, der so entschlossen dem hinter der Ecke verborgenen, gleichwohl gleißenden Licht (dem Ideal) entgegenstrebt.

Aber dieses Streben hinterlässt Spuren (Enttäuschungen), indem das Gesicht überstrahlt, wie weggebrannt wirkt. Auch bleibt für den Betrachter unklar, welchem Ziel der Protagonist letztlich entgegeneilt.

Ein Fazit

Es würde mich freuen, wenn die Bildbesprechung Euch einen Einblick in die Straßenfotografie mit dem Lensbaby und meine psychologische und künstlerische Konzeption der Tiefenschichten geben konnte.

Die Straßenfotografie bewegt sich seit jeher im Spannungsfeld zwischen dokumentarischer Situationsnähe und künstlerischer Übersetzung. Die Eigentümlichkeiten des Lensbabys wie spotförmige Schärfebereiche, weitläufige Unschärfezonen und geringe Abbildungsleistung lassen das Pendel dabei aus meiner Sicht eindeutig zum letztgenannten Pol hin ausschlagen.

Dies und die Möglichkeit einer individuellen und unverwechselbaren Handschrift mag Anreiz geben, sich mit dem Lensbaby vertraut zu machen. Dazu gehe ich dann morgen im zweiten Teil auf die technischen Aspekte der Lensbaby-Objektive ein.

Ähnliche Artikel