18. Februar 2012 Lesezeit: ~25 Minuten

Zu Besuch bei Jo Schwab – ein Portrait in Worten

Die Portraits, die Jo Schwab für seine Serie “habitual grace” anfertigt, faszinieren mich durch ihre Klarheit und Reduktion. Das Licht, immer einfach und ähnlich gesetzt, lässt Raum für die Person selbst. Nichts drum herum lenkt ab. Der Mensch erstrahlt förmlich für sich, in seiner Aussagekraft und ist gleichzeitig Projektionsfläche für den Betrachter.

An einem verregneten Tag treffe ich ihn in seiner Berliner Wohnung. Der Empfang ist herzlich und während Jo Schwab am Herd steht und mit Muße zwei Espressi mit Milch und Schaum anrichtet, finden wir gleich in eine Unterhaltung, die überhaupt nicht wie ein gewöhnliches Interview anmutet, sondern mehr ein Gespräch ist, das wohltuend wirkt.

Erzählst Du mir ein bisschen von Dir, wo bist Du aufgewachsen und was hat Dich beeinflusst?

Geboren bin ich in Frankfurt am Main, und als ich 4 oder 5 war, zogen meine Eltern mit mir nach Rom in Italien. Ich bin dort aufgewachsen und habe fast meine gesamte Kindheit dort verbracht. Ich denke, mit ungefähr 15 wusste ich dann, dass ich Fotograf werden wollte. Es gab da zwei Impulse. Zum einen meinen Onkel, der eine kleine Galerie für Fotografie hatte und mir die alte Nikon F2 meines Großvaters schenkte, zum anderen den Film “Apocalypse Now” von Francis Ford Coppola. Darin spielt Dennis Hopper einen irren Photographen im Dschungel; in dieser Rolle sah ich mich und ich dachte auch über nichts anderes nach.

Warum Fotografie?

Ich weiß es nicht genau. Was sind die ersten Impulse, die einen zur Fotografie treiben, wo liegt der Reiz? Es ist die kindliche Lust am Beobachten, Sehen, Entdecken. Die Kamera schafft eine Distanz, die einem das Gefühl gibt, die Welt präziser zu sehen als man sie vorher gesehen hat. Fotografie verlangsamt Wahrnehmung, fokussiert, trennt das Wesentliche vom Nebensächlichen. Ich denke, am Anfang gibt es so eine Art fotografische Pubertät. Eine Phase, die fast jeder junge Fotograf hat. Man interessiert sich dann leidenschaftlich für alles: Licht, Strukturen, Formen, den Himmel, Blümchen, man fotografiert einfach alles.

Die Phase muss man dann erst einmal hinter sich bringen. Dann kommt irgendwann die Vertreibung aus dem Paradies, der Verlust der fotografischen Unschuld, die Eitelkeit des Fotografen beginnt. Man findet sich sexy in der Rolle des Fotografen, man will so sein wie der Fotograf auf dem „Blow up“-Filmplakat, der breitbeinig über dem Model hängt. Die Kamera fängt an, deine Waffe zu werden, dein Schwanz, man entdeckt die Erotik der Fotografie.

Du hast dann beschlossen, Fotografie zu studieren?

Ja… ich überlegte dann, wo man Fotografie studieren kann. Ich habe mich dann an der Kunstakademie in Berlin beworben und weil ich gerade ein einjähriges Praktikum bei Jean-Marie Bottequin in München machte, auch an der staatlichen Akademie für Fotografie in München. Genommen haben mich beide, aber weil ich die Freundin in München hatte, bin ich dort geblieben… wobei ich mir nie sicher war, ob das eine gute Idee war.

Ich schaue ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und frage ihn, warum das keine gute Idee war.

München war nie mein Ding. Die Stadt verändert einen auf eine seltsame Art und Weise. Die Ausbildung dort war aber sehr gut, sehr klassisch, sehr handwerklich. Mitte der 1990er gab es noch keine Digitalkameras. Wir lernten das gesamte Spektrum analoger Fotografie. Großbild, Labor, Architektur, Reportage, Mode. Eine Materialschlacht aus Filmen, Prints und Labor-Chemie. Man simulierte vier Jahre lang einen vielbeschäftigten Fotografen. Nach der Ausbildung bin ich dann sofort aus München geflohen und für zwei Jahre nach London gegangen.

Die meiste Zeit dort habe ich als Assistent gearbeitet und nebenbei versucht, mich von dem zu befreien, was man mir während des Studiums über Fotografie beigebracht hat. Eigene Definitionen zu finden, was ein gutes von einem schlechten Bild unterscheidet, was man überhaupt will, welche Regeln es gibt und welche nicht, wie man seine eigene Bildsprache findet.

Das Studium war eine Basis und bringt Dir die grundlegenden und theoretischen Dinge bei, aber es bereitet Dich nicht auf einen Markt vor, auf den Berufsalltag als Fotograf. Das ist das erste große Problem und die erste große Erkenntnis, dass es mit einem Mal nicht mehr um die spielerische Lust an der Fotografie geht, sondern darum, mit was man Geld verdienen kann. Und dass es erst einmal zwei unterschiedlich Dinge sind: Die Fotogrfie, die man machen möchte und diejenige, für die man bezahlt wird.

Bei was für Fotografen hast Du in London assistiert?

Verschiedene, zum größten Teil aber Mode-Fotografen, obwohl ich mich nie wirklich für Mode begeistern konnte. Mir war dieses ganze „Fashion“-Ding immer zu blabla und affektiert.

Wie ging es weiter?

Ich gestehe, ich bin dann erst einmal zurück nach München gegangen, einfach weil es sich angeboten hat. Es gibt viele Magazine, Redaktionen und Agenturen, man bekam Jobs und die Dinge haben sich einfach entwickelt. Meine ersten Editorials habe ich für das Jetzt-Magazin gemacht, dann für das SZ-Magazin, Cosmopolitan, Allegra, Stern, Max und so weiter.

Nach zwei Jahren München habe ich dann im persönlichen Affekt beschlossen, dass ich keinen Tag länger mehr in München verbringen will und bin nach Berlin gezogen. Berlin war zwar der perfekte Ort zum Leben, allerdings zu dem Preis, dass es beruflich erst einmal steil bergab ging. Die ersten zwei Jahre waren beruflich eine Katastrophe und ich hatte ständig dieses äußerst schlechte Gewissen, ob man sich gleich am Anfang selbst derartig ins berufliche Aus schießen darf, nur um sich privat am richtigen Ort zu fühlen.

Aber genau diese Zeit war die Zeit der Reife. Um zu überleben, habe ich Kataloge fotografiert und nebenbei versucht herauszufinden, was ich überhaubt will. Man kann nur gute Bilder machen von Dingen, die einen interessieren. Mode war es nicht, meine kurzen Ausflüge als „Kriegs-Reporter“ in Bosnien und Israel endeten mit der Erkenntnis, dass mir dafür die Eier eines Capa fehlen und so bin ich langsam zu dem gekommen, was ich heute mache: Mit Portraits und Reise-Reportagen verdiene ich mein Geld und meine Akt-Portraits sind meine persönlichen Arbeiten, die mittlerweile auch viel veröffentlicht werden.

Und dann veränderte sich die Welt um Dich herum als Fotograf…

Das ist ein Thema, das wohl alle Fotografen heute betrifft. Die Digitalisierung und das Internet als Präsentations- und Vermarktungs-Instrument haben den Markt für Fotografie in kurzer Zeit grundlegend verändert. Es erschließt völlig neue Möglichkeiten und zerstört alte Regeln. Es löst die alten Grenzen auf, weil jeder Fotograf ist. Eine Digitalkamera und ein wenig Photoshop ersetzen technisch weitgehend alles, was „richtige“ Fotografen früher von einem Hobby-Fotografen unterschieden hat.

Jeder kann Bilder machen und sie im Internet zeigen und verkaufen. Die schiere Masse an Bildern ebnet die Fotografie ein zu einem allgegenwärtigen, mehr oder weniger austauschbaren und kurzlebigen Konsum-Objekt. Diese Demokratisierung der Fotografie ist auf der einen Seite fantastisch, weil sie jedem die Möglichkeit gibt, mit einfachen Mitteln kreativ teilzuhaben an der Lust, Bilder zu machen, sie der ganzen Welt zu zeigen, vielleicht sogar damit Geld zu verdienen.

Auf der anderen Seite verlieren Bilder damit ihren Wert. Wer darauf angewiesen ist, mit Fotografie seinen Lebensunterhalt zu verdienen, muss Bilder machen, die eine besondere Qualität besitzen, im besten Fall eine Qualität, die nichts mit technischen Mitteln zu tun hat, sondern mit dem Bild an sich… und das ist die gute Nachricht: Nichts wird jemals einen guten Fotografen ersetzen.

Und Du hast Dich dann spezialisiert?

Spezialisiert ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber in meiner freien Arbeit bemühe ich mich um eine gewisse Konsequenz. Ich mag dieses formal sehr Einfache, Strenge, Reduzierte. Dabei ist der Akt auch ein Mittel der Reduktion. Ich finde meine Bilder meistens völlig unerotisch. Irgendjemand hat mal gesagt, die Frauen auf meinen Bildern seien zwar nackt, aber wirken wie angezogen. Das fand ich gut. Anfänglich sind diese Bilder als rein persönliche, freie Arbeiten entstanden. Irgendwann haben sie sich dann einer ganz erstaunlichen Resonanz erfreut und wurden in einigen Magazinen veröffentlicht, was für mich etwas absolut Neues war, nicht nur meine Auftragsarbeiten gedruckt zu sehen, sondern meine ganz persönlichen Bilder.

Vor drei Jahren verkaufte ich dann zum ersten Mal an einen Sammler aus New York ein Bild. Das war die nächste großartige Erkenntnis, dass jemand auf die Idee kommt, sich eines meiner Bilder an die Wand zu hängen und bereit ist, dafür tatsächlich 2000$ zu zahlen. Das hat mich elektrisiert und ich habe angefangen, mich immer mehr auf diese Art von Bildern zu konzentrieren. Mittlerweile verdiene ich mit meinen Akt-Bildern fast mehr Geld als mit meinen Auftragsjobs und das verändert gerade etwas meine Selbstdefinition. Ich habe mich immer als Fotograf verstanden, aber ganz im Ernst nie als „Künstler“. Ohnehin ein Begriff, den ich für stark missbraucht halte. Aber ich würde natürlich lügen, wenn ich es nicht auch sehr schmeichelhaft finden würde.

Wie und wo findest Du die Menschen, die Du photographierst und wie vermittelst Du ihnen, was Du machen willst?

Eigentlich überall, entweder irgendwo im Internet, bei Agenturen, auf der Straße, unter Freunden. Meistens unterhalte ich mich vor einem Termin lange mit meinen Modellen, versuche zu beschreiben, um was es mir geht, was ich will und was ich nicht will.

Wie sind die Reaktionen der Modelle auf die Bilder?

Sie wissen, worauf sie sich einlassen. Aber es ist oft interessant zu sehen, wie Wahrnehmung und Reaktion auf Bilder von anderen und dem eigenen Bild auseinandergehen. Eitelkeit ist dem neutralen Blick auf sich selbst immer im Weg.

Worum geht es in Deinen Bildern?

Es geht um Schönheit. Eine Schönheit, die irritiert, weil man einen hintergründigen Makel ahnt. Ich mag diese Irritation, wenn sich ein Bild langsam erschließt, obwohl es in seiner Einfachheit keine Geheimnisse zu haben scheint. Wenn man über etwas nachdenken muss, ohne zu wissen, über was. Ich denke, ein gutes Bild muss die selbe Qualität besitzen wie Musik oder ein Gedicht, es muss beim Betrachter im Kopf bleiben. Es geht nie darum, die Eitelkeiten desjenigen auf dem Bild oder die Eitelkeit des Fotografen zu befriedigen. Das Bild entsteht für einen fremden Betrachter. Für ihn muss es etwas sagen. Ich denke, ein Bild ist immer zuerst eine Projektionsfläche. Fotografie zeigt nur Oberfläche, das liegt am Medium. Kein Bild kann das wahre, tiefere Wesen eines Menschen abbilden, was er denkt, fühlt, wer er ist.

Es ist eine Konstruktion. Es ist mein subjektiver Blick und am Ende steht die Interpretation des Betrachters. Derjenige vor der Kamera muss das akzeptieren, dass es bei dem Bild nicht um ihn, sondern um eine fiktive Figur geht, wie bei einem Schauspieler, der eine Rolle verkörpert. Meine Arbeit ist es, ein Gefühl dafür zu haben, wer dieser Mensch auf dem Bild sein könnte, nicht wer er wirklich ist. Das Bild gibt nur eine Vorlage für die Interpretation des Betrachters, was er darin sieht, ist seine Welt.

Das ist ja auch das Spannende an Fotografie: Wie funktioniert Wahrnehmung? Wie lässt sie sich manipulieren, wann berührt uns ein Bild und warum, was sehen wir wirklich und was glauben wir zu sehen. Durch die Masse an Bildern, die wir jeden Tag sehen, entscheiden wir sehr schnell, ob uns etwas gefällt und wir sind visuell sehr verwöhnt. Wir konsumieren Bilder und selektieren extrem schnell, was wir in Sekunden schon wieder vergessen haben oder was wir uns merken.

Sehen ist ein permanenter Abgleich mit schon Gesehenem, mit persönlichen Assoziationen, Gefühlen, Werten… und wir sind sehr schnell gelangweilt. Die Halbwertzeit eines Bildes ist meist kurz.

Daran versuche ich mich immer zu erinnern: Dass man machen kann, was man will, aber dass ein gutes Bild immer nur ein Bild ist, das sich nicht in kürzester Zeit verbraucht und dass jedes Bild, das schnell untergeht, weil es uns nach kürzester Zeit nichts mehr sagen kann, ein sinnloses Bild ist.

Da kommt wieder die Frage auf: Warum machen wir das überhaupt?

Genau, warum fotografierst Du denn?

Gute Frage. Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil es glücklich macht, für eine bestimmte Zeit und weil ich Menschen darüber kennenlerne, die ich sonst nicht kennenlernen würde?

Stell Dich hier unten auf die Straße, setz Dich auf eine Bank und nach ein paar Minuten hast du schon ein paar Leute neben Dir sitzen, die Du kennengelernt kannst… dafür brauchst Du keine Fotografie.

Hmm…

Die Frage, warum man das macht – abgesehen davon, sein Geld damit zu verdienen – kommt immer wieder. Ich habe auch mindestens zwei mal im Jahr das Gefühl, dass ich nichts sinnloser finde als Fotos zu machen und wesentlich mehr Befriedigung darin sehen würde, einen Ziegenhof zu führen und Käse zu verkaufen. Ein einfaches und ehrliches Produkt, das alle glücklich macht und mit dem man auch sein Geld verdienen kann.

Aber nach drei Jahren kotzt Dich das dann auch an.

Kann sein, aber all unsere Leben sind nicht mehr statisch. So wie unsere Eltern einen Beruf gelernt und bis zum Ende ausgeführt haben, das gibt es nicht mehr. Wir müssen immer wieder unsere Leben neu definieren.

Für einen Moment entsteht Stille. Ich nippe am Kaffee, lasse mir die Worte noch einmal durch den Kopf gehen, weil sie etwas ansprechen, was wesentlich ist. Man braucht eine Weile, um wieder zurückzukommen, aber dann fällt schon die nächste Frage.

Du fotografierst vorzugsweise auf Film?

Meistens, ja. Ich gebe zu, ich habe auch digital angefangen und finde es auch alles äußerst praktisch, aber irgendwann habe ich gemerkt: Ich verbringe meine Zeit nur am Rechner und ich habe irgendwas vermisst. Analog fotografiert man anders, konzentrierter, fokussierter, unmittelbarer. Ich habe das Anfassen vermisst, das Materielle, die Filme, das Enwickeln, Kontakte, Papier, den ganzen Prozess, den Rhythmus, die Zeit. Es befriedigt mich mehr und ich habe einen anderen Bezug zu meinen Bildern, sie sind für mich realer als digitale „Files“ auf meinem Rechner.

Ich fand es auch irgendwann verlogen, digital zu fotografieren und das Bild dann künstlich wieder analog aussehen zu lassen. Natürlich enden meine Bilder auch irgendwann als Scans und die Versuchung der digitalen Spielereien ist groß… aber ich versuche, es so analog wie möglich zu halten.

Als ich gelesen habe, dass Gursky seine großartigen Bilder am Rechner digital aus vielen Einzelteilen zusammensetzt, war ich enttäuscht. Natürlich zählt am Ende das Bild, aber irgendwie war da eine Magie verloren, es waren mit einem Mal eben auch nur Retorten-Bilder.

Der Satz steht eine Weile im Raum. Keiner sagt etwas. Das Diktiergerät nimmt die Stille auf. In meinem Kopf ist plötzlich keine Frage mehr. Als ich das Gerät später abhöre, sind es 15 Sekunden Schweigen. Dann nimmt Jo den Gesprächsfaden wieder auf.

Nochmal zum Thema, was ich da mache, meine Aktportraits. Es gab da am Anfang eine Idee, von der hab ich mich zwar wieder stark entfernt, aber sie schwingt immer noch etwas mit. Diese Suche und Definition von Schönheit. Wahrscheinlich das klassischste aller Themen seit Menschen etwas abbilden. Wie schon immer eine sehr subjektive Sache und schon immer abhängig von unterschiedlichstem Zeitgeist und Kulturen.

Als persönliche Definition hat für mich Schönheit ganz wesentlich etwas mit einem Bewusstsein zu tun. Es gibt viele wunderschöne Mädchen auf dieser Welt, die Agenturen sind voll davon aber meistens fehlt ihnen etwas, dass ihre äußere Schönheit vollkommen machen würde. Sind in ihrer ganzen Makellosigkeit uninteressant, weil sie wissen, dass sie schön sind. Es gibt Menschen, die sind wunderschön, aber sie haben keine Ahnung davon… das ist etwas sehr Charmantes. Es ist wie ein Zustand der Unschuld, nicht zu wissen, was andere in einem sehen. Das war etwas, das mich gereizt hat, diese sich selbst nicht bewusste Schönheit. Daher auch der Titel der Serie „HABITUAL GRACE“.

Es gibt viele spannende Themen, was Portraits angeht. Ich hab auch mal überlegt, klassische Baletttänzerinnen unmittelbar nach ihrem Tanz zu portraitieren. Die physische und innere Spannung und Konzentration in ihren Gesichtern. Oder Portraits junger Nonnen, ob man etwas von ihrer inneren Ruhe und dem Glauben in ihren Gesichtern sehen kann. Ich würde auch Mörder, Neonazis und Kinderschänder portraitieren, einfach um zu wissen, ob man in ihren Gesichtern etwas von ihren inneren Abgründen lesen kann, um es zu verstehen.

Du hast vorhin gesagt, Deine Bilder sind Projektion und Du kannst nicht die Persönlichkeit desjenigen abbilden, sondern der Mensch bleibt Projektionsfläche. Jetzt fragst Du, ob sich da eben doch was nach draußen transportieren lässt…

Die Kamera kann nicht mehr als die Oberfläche darstellen und ist nicht imstande, eine objektive Wahrheit darüber hinaus zu zeigen. Aber ich denke, es ist möglich mit der Fotografie die Oberfläche auf eine konzentriertere Weise zu zeigen, so dass sie uns doch etwas verrät oder wir zumindest das Gefühl haben, etwas hinter ihr zu sehen.

Fotografie ist ein kommunikatives Medium. Der Sinn eines Bildes ist, gesehen zu werden. Die Arbeit eines Fotografen ist es, Bilder zu erschaffen, die dem Betrachter einen Impuls geben, sich für etwas zu interessieren, den Raum und die Zeit zu schaffen, etwas genauer zu betrachten und für sich zu entschlüsseln. Ein gutes Bild beinhaltet auch immer eine Hintergründigkeit, eine unbeantwortete Frage. Ein zu offensichtliches Bild verbraucht sich schnell und langweilt, ein zu verschlüsseltes Bild ermüdet. Die Aufgabe ist es, diese Balance zu finden zwischen Klarheit und Tiefe.

Während Jo spricht, klingelt im Hintergrund irgendwo in einem der anderen Räume ein Telefon. Ich bemerke nicht einmal ein Zucken in seinen Gesichtsmuskeln. Das Gespräch geht weiter und das Klingeln, das aufmüpfig nach Aufmerksamkeit ruft, wird ignoriert und nicht mehr wahrgenommen. Ich finde das interessant, leben wir doch in einer Welt, in der man ständig erreichbar sein will und in der hinter jedem Klingeln eine murmelnde Verheißung stecken könnte.

Ich mag es, wenn Du ein Portrait betrachtest und Du nicht weißt, worüber Du nachdenken sollst, aber Du denkst über etwas nach. Ein gutes Bild lässt Raum und legt gleichzeitig eine Spur. Deswegen mochte ich nie besonders mit Ideen und Details überladene Bilder, zumindest bei Portraits. Diese formale Reduktion – das Weglassen von Dingen, der Akt, schwarzweiß, der neutrale Hintergrund, die sehr statischen, ähnlichen Posen, das Zentrieren im Bild… das ist mir wichtig.

Ich finde, man kann Fotografie immer gut mit Musik vergleichen. In der Musik haben wir immer Namen für die verschiedenen Genres. Das ist Pop, das ist Punk. Das sind Bezeichnungen, die gibt es in der Fotografie nicht, obwohl das absolute Analogien sind. Das meiste, was man sieht, ist Volksmusik oder professionell produzierter Pop. Alternativ gibt es alles, von Hardcore und Punk bis Zwölfton. Die Frage ist dann eben nur, auf was man steht und nach was die Bilder klingen sollen, die man selbst macht.

Wie sieht es eigentlich mit einem Buch aus? Ich hatte da was gelesen.

Seit drei oder vier Jahren gibt es den Gedanken, ob ich aus den Bildern mal ein Buch machen sollte. Aber ich denke, dass es sich bei einem Bildband erst recht wie in der Musik verhält. Du blätterst die Seiten um und ich finde, die einzelnen Bilder sind dann wie einzelne Töne. Aber erst, wenn aus den einzelnen Tönen eine gute Melodie wird, dann bist Du reif, ein Buch zu machen. Und gute Bilder brauchen Zeit. Es ist wichtig, sich Bilder immer wieder anzuschauen. Ich traue Bildern auch nicht sofort. Man muss sie immer wieder anschauen und hinterfragen, ob sie immer noch funktionieren. Erst wenn sie mich nach einem Jahr immer noch nicht langweilen, könnte es sein, dass es ein gutes Bild ist… und irgendwann ist die Zeit reif für ein Buch.

Ist es auch schon passiert, dass Du Leute fotografiert hast und da kein Bild dabei war, das Deinem Anspruch genügte?

Ja, das passiert oft. Es ist immer Experiment und Versuch. Ich lasse Bilder meistens erst einmal liegen, brauche ein bis zwei Wochen, bis ich mir die Bilder überhaupt anschaue, wähle die ersten aus, verwerfe wieder, komme drauf zurück, entscheide mich irgendwann und oft passiert es eben auch, dass sie mich alle langweilen.

… habe ich Deine Fragen jetzt überhaupt alle beantwortet?

Ich bin zufrieden, ja. Ich habe jetzt aber auch noch eine abschließende Frage. Auf deiner Seite, unter „Projektion“, da ist ein Bild, das hat mich sofort angesprochen.

Jo grinst und klatscht in die Hände.

Da sitzt ein Junge vor einem Fernseher, auf dem kein Bild zu sehen ist, in einem Raum mit einem Bett. Ich würde gern die Geschichte dahinter erfahren.

Ich erzähle Dir natürlich die Geschichte, aber mich würde jetzt natürlich erst einmal interessieren, was Dir das Bild denn erzählt.

Das Bild erzählt für mich von sehr viel Raum, aber von einem Jungen, der diesen Raum überhaupt nicht einnimmt, sondern am Rand sitzt und er schaut auf oder in etwas, und das nimmt ihn aus diesem Raum heraus. Es zeigt für mich Stille und Leere. Man fragt sich natürlich, wo das aufgenommen wurde. Da ist ein Haus aus Brettern zusammengezimmert. Das Zimmer ist zwar gefüllt, auf dem Bett sind die hellen Laken zerknittert, die Kleidung hängt an der Decke.

Spannend… das Bild ist sehr einfach und gibt doch mehr Fragen auf als es beantwortet und trotzdem magst Du es. Ich habe letztes Jahr im Mai für ein Magazin eine Geschichte gemacht und bin mit einem Journalisten nach Surinam geflogen, einem kleinen Staat in Südamerika. In Surinam gibt es außer brutaler Hitze und Urwald nicht viel. Eine der wenigen Möglichkeiten für die Menschen dort, irgendwie Geld zu verdienen, ist tief im Regenwald nach Gold zu suchen. Es ging um diesen Mikrokosmos der Goldgräber. Menschen, die weit weg von jeder Zivilisation ihr letztes Glück suchen, den Urwald roden, mit Plastikflaschen voller Quecksilber nach Goldstaub graben und dann das bisschen Geld, das sie verdienen, mit Alkohol und Nutten durchbringen, bis sie früh an einer Quecksilbervergiftung verrecken.

Allerdings haben wir es überhaupt nicht bis dorthin geschafft, weil wir niemanden gefunden haben, der uns auch nur in die Nähe bringen wollte und so haben wir uns zehn Tage in Paramaribo, der Hauptstadt, rumgetrieben und dieses Bild ist eben dort entstanden. Eine der selbstgebauten Hütten am Stadtrand, in der ganze Familien mit unzähligen Kindern leben und in denen es nichts, aber immer einen Fernseher gibt, in den der Junge gerade mit diesem etwas leeren Blick sieht. Man muss sich dazu einfach diese Mischung aus Langeweile und einer mörderischen Hitze vorstellen und die Tatsache, dass in dem Fernseher vor allem Rauschen zu sehen ist.

Hat er gemerkt, dass Du ihn fotografiert hast?

Ich weiß es nicht, man wird allgemein mehr oder weniger ignoriert, das ist normal.

Eine kleine Pause entsteht und ich bin kurz davor, danke zu sagen, als Jo noch einmal einen Gedanken weiter geht. Er findet damit einen guten Abschluss für das Interview.

Ich glaube, ich bin gerade wieder an einem fotografischen Punkt, an dem ich Neues beginnen sollte. Jemand hat mir einmal in einer E-Mail geschrieben, ich solle meine „comfort zone“ verlassen und… er hat Recht.

 

Mehr von Jo Schwab findest du hier: http://www.joschwab.com/

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