03. Januar 2012 Lesezeit: ~10 Minuten

Wie ich fremde Menschen portraitiere

Neulich hatte ich ein Gespräch, in dem mein Gegenüber mich ordentlich darüber ausfragte, wie ich fotografiere. Dabei ging es gar nicht um die Technik, sondern das Drumherum. Und mir wurde bewusst, dass mein Vorgehen bei Portraits eine Philosophie hat und einigen Grundregeln folgt.

Fremde Menschen, die mir gefallen, spreche ich an. Manchmal sogar ganz fremde, in der Straßenbahn oder auf der Straße. Ohne sie zu fragen, wie sie heißen, wie alt sie sind oder woher sie kommen. Das ist für mich in diesem Moment unerheblich. Ich möchte nur den Kontakt herstellen, bevor sie vielleicht für immer um die nächste Hausecke verschwinden.

Modell: Sylwia K.

Oder der Kontakt entsteht über das Internet aus meiner Motivation oder der des Modells, einer mag die Arbeiten des anderen. Dann ist man sich zwar näher, kennt den Namen und die Fotos des anderen und hat eine Ahnung von der Person, mit der man arbeiten möchte, weil man in der Vorbereitung Nachrichten hin und her schreibt – ist sich aber eigentlich immer noch fremd.

Auf dieser Basis arbeite ich und von dieser Fremdheit ausgehend muss ich so agieren, dass am Ende Fotos entstehen, mit denen wir beide zufrieden sind. Dazu bedarf es viel Vertrauen, das aufgebaut werden muss, damit überhaupt erst Fotos möglich werden, welche die Distanz überbrücken, die anfangs noch zwischen uns besteht.

Dazu gehört Vertrauen in den Raum. Mein Modell darf keine konkreten oder abstrakten Ängste haben, dass irgendetwas Bedrohliches oder Erschreckendes passiert. Dafür muss ich als Fotograf sorgen, indem ich nicht mit der Tür ins Haus falle, sondern erst einmal den Raum auf die Person wirken lasse, damit sie ihn kennenlernt.

Seine Ausmaße und Geräusche, vielleicht die Pflanzenwelt, die Tiere und die Gerüche in der Natur oder in einer Wohnung die Einrichtung, das Licht, die Akustik, die Anwesenheit anderer Menschen im gleichen Gebäude. All das wirkt auf uns und wir müssen es erst kennenlernen, um uns sicher zu fühlen.

Modell: Sandra

Und Vertrauen in mich als Person und Fotograf. Das hat etwas mit Macht zu tun, denn auch wenn man das Gefühl hat, kreativ auf einer Wellenlänge zu sein, gehe ich am Ende unseres Treffens mit den Bildern auf der Karte oder dem Film nach Hause, auf denen das Modell abgebildet ist.

Es gibt einen Vertrag, der Rechte und Pflichten regelt, den wir beide unterschrieben haben, aber trotzdem muss ich auch zwischenmenschlich das Gefühl vermitteln, dass das Modell mir vertrauen kann. Dass seine Bilder bei mir gut aufgehoben sind, dass ich damit keinen Blödsinn mache, dass ich mich an meinen eigenen Vertrag halte.

Vor dem Fotografieren muss ich einen Menschen erst kennenlernen, ich frage jede Menge Dinge, die mich sonst an fremden Menschen nicht interessieren würden. Jetzt achte ich aber genau darauf, was mein Modell von sich und seinen Lebensumständen erzählt, was es von sich preisgibt, wie es sich bewegt, spricht, nachdenkt.

Ich passe mich selbst der Kommunikationsweise des Modells an. Ist es schüchtern, spricht vielleicht nicht viel? Dann möchte ich es nicht mit meiner manchmal unbedachten, spontanen Art überfordern oder einschüchtern. Also spreche ich selbst auch weniger, ruhiger und bedachter.

Modell: Désirée

Modellen, die nur so übersprudeln vor Ideen und Selbstauskunft, versuche ich ebenso zu begegnen. Spontan viel zu reden, auch mal einen etwas verrückten Gedanken äußern, ohne ihn komplett zu durchdenken, von Privatem erzählen oder etwas, das mir gestern passiert ist. Ich gebe zurück, was ich bekomme.

Gleiches gilt für meine Bewegungen. Wer Abstand hält, dem zwinge ich keine Umarmung zur Begrüßung auf. Den warne ich vor, bevor ich ihn anfasse, um für ein Foto Kleidung zurechtzuzupfen oder eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen.

Ich fahre zu meinen Modellen nach Hause, um dort Kleidung auszusuchen und zum Beispiel in der umliegenden Natur zu fotografieren. Oder sie kommen zu mir, wir ordnen bei mir einige Outfits und machen uns dann auf den Weg zu einer Location, die ich ausgesucht habe. In beiden Situationen verhalte ich mich unterschiedlich:

Bei mir zuhause öffne ich mich, lade meine Modelle ein, sich überall umzuschauen, denn ich habe nichts zu verbergen. Sie können ihre Sachen ablegen und es sich bequem machen, wo sie möchten und sich mit dem, was sie mitgebracht haben, ausbreiten. Ich biete eigene Kleidung und Accessoires an, wenn sie passen; krame in Schränken nach Dingen, die mir einfallen.

Modell: Daniela Parisi

Bevor jemand zu mir kommt, putze ich und räume auf, denn das gehört zum guten Ton. Aber ich übertreibe es nicht, denn ich bin immer noch ich selbst, etwas Unordnung gehört dazu. Ich biete etwas zu trinken und zu essen an, achte darauf, ob mein Modell entspannt wirkt oder vielleicht noch etwas braucht.

Bin ich bei meinen Modellen zu Gast, bewege ich mich sachte, schaue nicht einfach in fremde Sachen. Ich frage, bevor ich etwas in die Hand nehme oder ein Stück mit interessantem Muster einfach aus dem fremden Kleiderschrank ziehe. Einladungen, dort aber nach Herzenslust zu wühlen, nehme ich ebenso an.

Ich halte die Distanz, die die andere Person mir vorgibt. Ich möchte nicht unangenehm bedrängen und gleichzeitig auch nicht zu viel Abstand halten, denn auch das könnte für den anderen unangenehm sein, er oder sie könnte sich fragen, ob etwas nicht stimmt und ich deshalb die Nähe ablehne.

Alles ist zielgerichtet auf die Fotos, die ich entstehen lassen möchte. Egal, ob sie spontan, verträumt, traurig, ausdrucksstark wirken oder Rollen gespielt werden sollen: Für ein optimales Ergebnis ist es unerlässlich, dass das Modell sich in der Situation und mit mir gemeinsam wohlfühlt.

Modell: Tami

Nur so kann das Modell sich fallen lassen, experimentieren und auch Zwischenschritte umsetzen, die nicht gut aussehen, durch Weiterentwicklung und Ideen von mir und ihm aber zu einem interessanten Endergebnis führen. Wenn es gehemmt ist und sich nicht traut, kommen wir nicht zu ungewöhnlichen Bildern, sondern bleiben immer bei dem, was sicher ist – was aber auch jeder schon kennt und daher langweilig ist.

Ich fange langsam an zu fotografieren. Erkläre auch gern erst einmal, wie ich arbeite, wenn ich schon die Kamera in der Hand habe, aber noch nicht auslöse. Damit mein Gegenüber weiß, was gleich passiert und nicht überrascht ist, vielleicht weil ich wenig Anweisungen gebe, manchmal wegen Licht oder Komposition erst einmal in mich hineingrüble, was aber keine stumme Kritik an dem ist, was das Modell tut.

Ich erkläre, dass ich manchmal Ideen äußere, mein Modell sich aber grundsätzlich immer wohlfühlen soll. Daher nichts tun soll, was es nicht möchte. Sich nicht verrenken muss, wenn es merkt, dass meine Idee anatomisch nicht umsetzbar ist. Dass ich möchte, dass es gern spontan eigene Ideen umsetzt (außer, ich habe kurz angeordnet, die Pose zu halten, weil ich weiß, dass ich noch mehr Bilder genau davon machen möchte), die wir zusammen weiterentwickeln können.

Frage immer wieder, ob alles in Ordnung ist, ob etwas fehlt. Ob er oder sie noch eigene Ideen umsetzen möchte. Ob sie genug von der Inszenierung haben, an der wir gerade arbeiten oder ob das Gefühl da ist, dass wir noch mehr daraus machen können. Dabei hilft auch, immer wieder die gerade gemachten Bilder gemeinsam anzusehen und darüber zu sprechen, was gefällt, was nicht gefällt, was in der Nachbearbeitung noch verändert werden kann und was nicht.

Modell: Amy Lou Black

Das alles hat nichts mit Lichtsetzung, Komposition, Kameratechnik, Ausrüstung oder Nachbearbeitung zu tun. Und trotzdem ist es für die entstehenden Fotos genauso wichtig, vielleicht sogar wichtiger als die ganze Technik zusammen.

Genau das reizt mich daran. Einen fremden Menschen kennenlernen, mich mit ihm kreativ verbinden und dadurch etwas Neues schaffen. Jemand, mit dem mich bis dato nur der dünne Faden der Fotografie verbindet. Manchmal sogar noch weniger, vielleicht nur, dass mich beim Einsteigen in die Straßenbahn fast der Schlag getroffen hat bei seinem Anblick.

Es reizt mich, mir nicht zu viel Konkretes vorzunehmen, sondern mich auf das einzulassen, was der andere möchte, was sein Kleiderschrank hergibt, was die umliegende Natur zu bieten hat und das alles in meinem eigenen Stil als Rahmen einzubetten.

Das macht mir oft mehr Spaß, als an einer konkreten Idee zu arbeiten und dann vielleicht daran zu scheitern, weil die Umsetzung nicht so funktioniert wie gedacht oder – fast noch schlimmer – weil die fertig gebaute Szenerie nicht die Wirkung hat, die ich mir versprochen habe.

Modell: Laura

Das ist aber auch anstrengend. Es erfordert oft über viele Stunden hinweg eine gesteigerte Aufmerksamkeit und Fokussierung, die ich nicht gewohnt bin, weil ich in meinem Alltag den Großteil der Zeit allein verbringe oder mit Personen, die mir so stark vertraut sind, dass ich ihre Anwesenheit fast vergesse und so zumindest mit meinen Gedanken allein bin.

Nachdem ich auf diese Weise Fotos gemacht habe, bin ich oft erschöpft, könnte schon in der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause einschlafen. Und doch mache ich es jedes Mal wieder so, verfeinere nur Details an meiner Philosophie.

Denn es lohnt sich.