16. August 2011 Lesezeit: ~6 Minuten

Sich von der Kamera führen lassen

Als mir eine Kamera in die Hände fiel, die sich zu schön anfasste, um sie nicht zu benutzen, aber für Portraits nicht so geeignet zu sein schien, bin ich ihren Möglichkeiten gefolgt und habe so die Landschaftsfotografie für mich entdeckt.

Im letzten Jahr bekam ich von meinem Vater einen ganzen Karton voll alter Kameras. Mit einigen wurde ich sofort warm, andere habe ich überhaupt erst sehr spät in die Hand genommen und wieder andere warten noch auf passendes Filmmaterial.

Die Kodak Junior 620 war im letzten Herbst eine der ersten Kameras, die ich mit Rollfilm fütterte und ausführte. Sie ist eine alte Dame aus den 30er Jahren, faltet sich elegant aus ihrer Behausung und den Bildausschnitt legt man eher pi Mal Daumen mittels Rahmensucher fest.

Leider waren die ersten Ergebnisse sehr ernüchternd, die meisten Bilder unscharf. Denn obwohl die Einteilung auf der Entfernungsskala an der Junior eher grob ist, muss man die richtige Entfernung sehr genau einstellen, damit das Bisschen Schärfe richtig liegt.

Ein oder zwei weitere Rollfilme füllte ich dann mit Bildern, für die ich mir minutenlang Zeit nahm. Ich legte den Ausschnitt fest, maß mit Schritten die Entfernung, stellte sie möglichst genau ein – und bekam meist doch unscharfe Ergebnisse, weil ich nicht genau genug gemessen hatte.

So langsam wurde mir also klar, dass es für mich nur zwei Möglichkeiten gibt, die Junior zu benutzen: Die Szenerie genau vermessen und so wahrscheinlich konzeptuelle Aufnahmen machen. Oder spontan bleiben, meine Augen an weite Landschaften gewöhnen und auf unendlich fokussiert fotografieren.

So hat mich eine Kamera zur Landschaftsfotografie gebracht. Der ich bis dahin nicht viel abgewinnen konnte, weil mein Blick öfter an Details oder Gesichtern haften bleibt und bei aller Liebe zur Natur für mich alles meistens doch sehr gleich aussieht.



Ende Juli standen für mich wieder zwei Wochen bei einem Workshop von ROOTS & ROUTES in der Landesmusikakademie NRW auf meinem Programm. Diese befindet sich in Heek, einem ziemlich gemütlichen, dörflichen Nest nahe der niederländischen Grenze.

Ich war schon öfter dort, hatte mir aber bisher nie die Zeit genommen, den Ort als solchen zu genießen, weil ich zu sehr in die Arbeit vertieft war. Was ich aber von der Umgebung gesehen hatte, veranlasste mich dieses Mal zu guten Vorsätzen.

Mehr Natur, mehr frische Luft, mehr Ruhe sollte es sein. Um diese Ideen auch in die Tat umzusetzen, nahm ich die Kodak Junior und ein paar Rollfilme mit auf die Reise. Wenn sie im Rucksack Platz wegnahmen, musste ich sie auch benutzen, um nichts umsonst mitgenommen zu haben.

An vielen Tagen stellte ich mir also den Wecker eine Stunde früher als nötig. Manchmal regnete es und ich blieb dankbar liegen. Hier und da erleichterte mir aber auch das goldene Licht des Sonnenaufgangs, das durch den Morgennebel brach, das Aufstehen.

So nahm ich dann um kurz vor sieben Uhr morgens den ersten tiefen Atemzug in der ebenfalls noch müden Natur. Ohne Wegekarte lief ich herum, schlug Wege nach hier und dort ein. Versuchte immer vorauszuahnen, wo die interessantesten Aussichten liegen könnten.

Zwischen vielen Quadratkilometern voll mit Maisfeldern schlängeln sich dort Flüsse entlang, liegen kleine Schafherden faul in der Morgensonne herum und stehen dicht gedrängt einige Bäume, Reste von Wäldern. Spaziergänger, Gassi-Geher und Reiter grüßen freundlich, unbekannterweise.

Hinter einem Wald blickte ich auf die Rückseite eines Hauses, das sich in die großen Büsche und Bäume zu hocken schien, als würde es sich verstecken wollen. Zwischen den hochgewachsenen Wipfeln der Maispflanzen tauchte eine leere Scheune auf, zusammengenagelt aus schiefen Brettern.

Ich folgte einem Pfad, der von der Straße wegführte. Zwischen hohem Gestrüpp und einem Feld entlang. Der verlegte Asphalt war aufgebrochen von Unkraut und Gras, bis er sich in einer Wiese verlor. Am Ende des Weges lag eine Lichtung, in deren Mitte eine riesige Birke prangte.

Hinter einer Schafherde entdecke ich einen Weg zu dem Feld, das ich bisher immer nur von der anderen Seite gesehen hatte. Einmal holte ich mir nasse Füße, um dorthin zu gelangen, indem ich über den kleinen Fluss sprang, der mich von meiner gewünschten Aussicht trennte.



Es war ein wenig als würde ich in eine Kindheit zurückversetzt werden, die nicht meine ist. Das Dorf meiner Kindheit war anders. Nicht so wild, nicht so weitläufig, nicht ganz so dörflich. Jetzt konnte ich die Schönheit mit Erwachsenenaugen begreifen, die man als Kind gar nicht zu würdigen weiß.

Ich hatte nur 16 Bilder auf zwei Rollfilmen, also wählte ich mit viel Bedacht, mit welchen Motiven ich die Magie dieses Ortes festhalten wollte. Keine Autos, keine Modernität sollte zu sehen sein. Nur weite Natur, hier und da ein altes Haus, ein Zaun aus Holzpfählen.

So versuchte ich, die Ruhe, Besinnung und schiere Weite zu konservieren, die ich dort erfuhr. Um mich zurückversetzen zu können, wenn ich wieder im hochtechnisierten, alltime online Alltag angekommen sein würde, der mich verschlucken und meinen Blick in neuzeitliche Schranken weisen würde.

Als ich wieder zuhause war, entwickelte ich trotz Schlafmangel zwei Stunden lang höchst (an)gespannt die Filme. Die letzten Minuten, in denen ich gedanklich noch zwischen den Feldern stand. Im Kipprhythmus des Entwicklungstanks verabschiedete ich mich.

Im Frühjahr hatte ich mit der Junior in Angoulême Stadtansichten fotografiert und als Film den Fomapan 100 benutzt, der einen blauen Träger hat. Abfotografiert und invertiert wird ein wunderbar altes Sepiabraun daraus, das ich dem hier verwendeten, neutralgrauen Kodak Tmax 100 nachträglich ebenfalls verpasst habe.

Zusammen mit den Krümeln, Fusseln und der fleckigen, ungleichmäßigen Ausleuchtung der Bilder trägt die Tonung einen entscheidenden Teil dazu bei, dass die fertigen Bilder aussehen als wären sie so alt wie die Kamera selbst. Postkartengrüße vom Anfang des letzten Jahrhunderts.

In welche fotografischen und realen Gegenden haben Euch Eure Kameras schon entführt?

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