25. Juli 2011 Lesezeit: ~10 Minuten

Fotografieren: Ein Lebensgefühl

Beauty, whether moral or natural, is felt, more properly than perceived. ~ David Hume

Fahrrad

Heute machen wir es mal anders. Dieser Artikel soll nicht nur auf der kognitiven Ebene ansprechen, sondern insbesondere die Emotionen des Lesers tangieren. Folglich handelt es sich nicht um einen „Aha-ok-kapiert“-Text. Nein, ich werde über das Lebensgefühl des Fotografierens sprechen, und zwar: das meine. Bevor der Artikel beginnt, möchte ich dazu ermutigen, beim Lesen auf das eigene Bauchgefühl zu achten.

Ich verlasse um halb 10 unser Haus. Zuvor habe ich ausgiebig das Frühstück genossen und meinen Krimi ein paar Seiten weitergelesen, wobei es mir wie immer schwer fiel, mich von den Seiten zu lösen. Doch die Vorstellung an einen kurzen Spaziergang mit umgehängter Kamera ist zu verlockend, um sie zu ignorieren.

So packe ich meine sieben Sachen, husche flugs die Treppen herunter, setze unterwegs meinen Winkelsucher auf und stöpsele mir die Köpfhörer ein. Instinktiv wähle ich Buzz von Ben Allison. Feinster Jazz, der das chaotische Pulsieren der Stadt untermalen wird. Die Speicherkarte ist leer, der Akku voll – Dinge, die mich nur am Rande interessieren, so lange sie so sind, dass ich neue Fotos machen kann.

Draußen. Es weht ein leichter Wind. Der Regen hat die quälende Schwüle der Tage zuvor vertrieben und so nehme ich meine liebste Kamera in die Hand und lege den Schalter um.

Mit den In-Ear-Kopfhörern, die spielerische Klänge in mein Ohr spülen und der Offenheit, die man braucht, um zu fotografieren, fällt der Gang durch die Gassen der Karlsruher Oststadt leicht. Binnen weniger Sekunden vergesse ich die Zeit; nun gibt es nur noch die Stadt, die Kamera und mich.

Der Blick durch den Sucher ist wie das Nachhausekommen nach einem langen Arbeitstag, bei dem man oft gedankenversunken an die Liebsten der Familie den Schreibtisch gequält hat. Ich bin sofort in meinem Element, denke nur sporadisch an Blendeneinstellungen oder Belichtungszeiten.

Mal bleibe ich stehen und warte, bis mir eine Person ins Bild läuft, mal entdecke ich ein altes Fahrrad, das an einer Hauswand lehnt. So, wie man sich an einen guten Freund lehnt, nachdem man zu fortgeschrittener Nacht seine Sorgen geteilt und über alte Peinlichkeiten gelacht hat.

Ich nehme sie ins Visier und fokussiere auf die Vorderlampe. Der Zeigefinger, der schon die ganze Zeit auf dem Auslöser lag drückt nun vorsichtig denselben herab, während ich langsam die Position wechsle und das Fahrrad aus zwei, drei Perspektiven in die Kamera locke.

Ich muss schmunzeln, als ich eine ältere Dame über den Zebrastreifen laufen sehe, die mit einer übermäßig großen Sonnenbrille wohl die hinreißendste Dame weit und breit ist. Ich fotografiere sie, so wie sie ist und bin ihr dadurch ein Stückchen nah, ohne mit ihr zu sprechen.

Vor ein paar Tagen passierte mir Folgendes: Während ich in eine kleine Gasse schleiche, flunkert mir aus nächster Nähe ein Eichhörnchen zu und schaut mich regungslos an, als stünde ich in einem lila Clownskostüm vor ihm, und bewegt sich nur schüchtern ein paar Millimeter hin und her.

Schnell die Kamera angelegt, durch den Sucher geguckt und… verdammt! Es ist weg! Stimmt gar nicht, ich habe nur zu weit unten angesetzt. Das rote Freundchen sitzt an Ort und Stelle und es scheint ihm gleichgültig, dass meine Kamera auch eine Pistole sein könnte. Ich drücke ab, Klack Klack.

Nun wird es dem Hörnchen wohl doch zu bunt und binnen Millisekunden hat es sich in die Äste gewunden und schaut hinter dem dicken Stamm zu mir herab. Auf Wiedersehen, Freund.

Auf das LCD schaue ich kaum. Ich nehme die Gerüche war, die in sekundenschnelle von „Essen“ in „regnerisch nass“ oder „alt und gebraucht“ wechseln. Ich höre den Wind durch die Bäume rascheln, ein kleines bisschen Natur, das der Mensch über die Jahre im Großstadtfieber mitbedacht hat.

Mit einem Auge beobachte ich Schlipsträger, wie sie mit Blick auf ihr Smartphone gehetzt an mir vorbeihuschen, wobei im Gegensatz dazu Studenten und Senioren mit einer käßmannischen Gelassenheit über den Trottwar flanieren.

Mit dem anderen Auge bin ich stets dabei, Hintergründe, Häuserwände und andere Dinge aufzufangen, die den Menschlein einen ansprechenden Rahmen geben könnten. Da ich meine Bilder nicht inszeniere, bin ich vollkommen dem Zufall ausgeliefert, doch das letzte Restchen Eigenkreativität will ich bewusst gestalten.

So warte ich an Kreuzungen, Bushaltestellen oder Zebrastreifen, bis mir eine Person ins Bild hineinläuft und mir somit ein Foto geschenkt wird, für das ich selbst am allerwenigsten etwas kann. Schließlich drücke ich nur das Knöpflein, das im Vergleich zur Fotoapparatur nur einen kleinen Teil ausmacht.

Und manchmal überrascht mich das Leben selbst. So traf ich vor Monaten im Frühling einen alten Herren, der mich freundlich ansprach, weil er sah, dass ich fotografierte. Wir kamen ins Gespräch, er kam ins Erzählen und so durfte ich ein wenig in das Leben eines Mannes hören, der nicht gerade wenig erlebt hatte.

Netterweise erlaubte er mir, ein paar Portraits zu machen und diese auch zu veröffentlichen. Ich habe sie bis zum heutigen Tag zurückgehalten, nicht aus Unsicherheit, sondern, um den geeigneten Zeitpunkt abzuwarten.

Während des Fotografierens empfinde ich in den stillen Kammern meines Wesens einen leichten Impuls der Glückseligkeit, die sich nur wage bemerkbar macht und nicht großkotzig filmreif über mich hereinfällt. Ich muss schon darauf achten, aber in diesem Fotografieren, Teilnehmen, Spickeln und Spazieren mit fotografischer Achtsamkeit liegt eine Art Ruhe, nein Frieden… Irgendwas dazwischen, unaussprechlich.

Es ist dieses Lebensgefühl, das ich kognitiv nicht erfassen, aber emotional und immer nur im Jetzt wahrnehme. Und exakt darum geht es in dieser Niederschrift.

Kommentar und anschließende Erläuterungen

Dies ist nicht das erste Loblied auf die Fotografie, das ich verfasst habe. Der achtsame Leser finden auf KWERFELDEIN allerlei Zeilen über das, was mich mit der Fotografie verbindet.

Und doch komme ich nicht umher, immer wieder das Zentrum dieses Magazins zu loben und meine Dankbarkeit auszudrücken, dass ich Fotografieren darf. Denn ich sehe es nicht als selbstverständlich an, Zeit und Geld dafür zu haben, um diesem Hobby nachzugehen. Wenn sich diese Dankbarkeit auch allzu gern im alltäglichen Dahinwerkeln verliert.

~

Es gibt – und es gab schon immer – Fotografierende in leitenden und weniger leitenden Funktionen, die schallplattenartig auf „mehr Disziplin“, mehr Selbstkritik und härteres Arbeiten an sich selbst verweisen.

Man findet diese Äusserungen in Büchern, Zeitschriften, Blogs und zwischen den Zeilen sozialer Netwerke wie Facebook oder gar Google+. Immer wieder wird herausgekehrt, wie wichtig es doch sei, sich selbst zu verbessern, zu kontrollieren und gnadenlos die eignen Fehler auszumerzen. Die Härte zu sich selbst würde den „echten“ Fotografen ausmachen.

Ich muss ehrlich sagen, dass mich diese Philosophie zunehmend abstößt. Wenn das Grund und Nährboden ist, auf dem ich fotografieren soll, dann lieber nicht. Ich möchte mich nicht selbst zum Fotografieren peitschen müssen. Natürlich braucht es manchmal Überwindung, man gibt sich einen kleinen Ruck, das gehört dazu. Aber wenn das alles ist, nein, danke.

Fotografieren ist für mich alles andere, als ein militärisches Trainingslager, in dem sich die „Könner“ im Dreck suhlen, einander die mannigfaltige Härte ihrer Selbstgeißelung vorführen, und alle anderen, die bei ihrer kleinkarierten Präsentation nicht mitmachen als Mimosen bezeichnen. Gott behüte uns vor einer deartigen Perversion, konservativ verkalkt und unerbittlich erstickend für jeden Spross einfacher Lebensfreude und ursprünglicher Inspiration.

Ich möchte in meiner Freizeit keinem Leistungsdruck gebeugt sein oder der Erwartung dienen, dass die Qualität meiner Bilder stets einer ansteigenden Linie folgt. Dass Fehler nicht mehr gemacht werden dürfen und ich mich selbst bis zur Perfektion heraufarbeiten muss.

Unter diesem Druck habe ich selbst lange gelitten, bis ich vor zwei Jahren die Schnauze voll hatte und nochmals bei Null anfing. Ich habe begonnen, die Messlatte so tief wie möglich zu setzen und der Freude am Fotografieren, der Lust am Bild den Vorrang zu geben. Ganz gleichgültig, ob das von anderen nun als schlechter, besser, oder sonst irgendwas eingestuft werden sollte. Und irgendwann habe ich die Messlatte komplett in den Mülleimer getreten.

Ich habe mir erlaubt ohne Zwang und Erwartungen zu fotografieren und das Spielerische an der Fotografie zu entdecken. Fernab von Perfektion und Ellenbogendenken, es den anderen – und mir selbst – schon zu zeigen.

Ich habe mich zurückgelehnt, jeden Tag ein paar Fotos gemacht und mir selbst ein wenig dabei zugesehen, wie aus einem verbissenen Foto-Martin ein Mensch wurde, der einfach fotografierte, weil er es gerne tat. Aus reiner Lust am Leben.

Fazit

So bin ich heute jemand, der über beide Ohren in die Fotografie verliebt ist und das Lebensgefühl der Fotografie versucht, zu verinnerlichen. Meine Bilder mögen heutzutage weniger clean, weniger perfekt, vielleicht auch weniger glatt sein, als früher. Aber das ist es mir wert. Und ich weiß: Wenn ich Spaß am Fotografieren habe, bin ich am – wenn wir das Wort überhaupt hier nennen wollen – Leistungsmaximum.

Mein Weg ist der Weg. Mein Weg ist nicht das Ziel, denn ich liebe es, einfach zu fotografieren. Ohne im Kopf irgendeine Zahl an Kommentaren oder das Entdecktwerden eines Verlags zu haben. Von mir aus fotografiere ich ein Leben lang für mich und diejenigen, die meine Fotos gern anschauen oder mich als Hochzeitsfotograf für das buchen, was ich gerne tue.

Denn das ist es, was ich am meisten genieße: Fotografieren, und das Lebensgefühl dabei. Eine Art Freiheit, die nicht in Worte zu fassen ist, sondern nur erlebt werden kann.

Ähnliche Artikel