Ein mann in der Natur
14. Januar 2015 Lesezeit: ~11 Minuten

Manueller Fokus im Zeitalter der DSLR

Kennt Ihr das auch? Ihr habt Hunger, geht in eines der berühmt-berüchtigten Systemgastronomie-Restaurants à la Burger-Donalds, Sub-Piano oder Dunkin Fried Chicken und blickt voller Ehrfurcht und Vorfreude auf diese talentierten Meister der Gaumenfreuden, die voller Inspiration und Leidenschaft ein Gourmet-Essen zaubern. Nein? Ich auch nicht. Mal ehrlich: So ziemlich jeder gönnt sich diese ungesunden Zwischenspeisen hin und wieder, weil sie schlicht einfacher und schneller sind.

Trotzdem läuft uns doch erst dann der Saft im Mund zusammen, wenn wir uns aus einer Speisekarte etwas aussuchen, von dem wir wissen, dass es von einem Koch zubereitet wird, der liebt, was er tut. Der das beste Stück Fleisch heraussucht, es nach seinem ganz persönlichen Bauchgefühl auf den Punkt brät und nochmal eine Prise Salz dazu gibt, weil er das Gefühl hat, dass genau das dem Gericht noch fehlt.

Warum sollte es sich beim Fotografieren anders verhalten? Klar, als ich zum ersten Mal eine Spiegelreflexkamera in der Hand hielt, stand der Programmregler auf „P“ und ich war begeistert, als meine Katze vor einem unscharfen Hintergrund freigestellt war. Als ich dann merkte, welche unglaublichen kreativen Möglichkeiten mir die einzelnen Einstellungen boten, befand sich meine Kamera bald nur noch im M-Modus.

Das Einzige, was ich mir noch vorkauen ließ, war der Fokus. Aber ich dachte mir irgendwann: „Warum eigentlich?“ Wenn die manuelle Veränderung von Blende, Verschlusszeit und ISO-Leistung ein Bild so ausschlaggebend verändern kann, dann sollte das doch beim Fokus nicht anders sein.

Also los, ist ja nichts dabei. Ich stellte einfach den Schalter von AF auf MF und ab ging die Post. Raus in den Garten, die Blumen ins Visier nehmen, Blende auf 1.4 (soll ja schön freigestellt sein) und am Fokusring drehen, bis es scharf aussieht. Pustekuchen.

Die Sichtung meiner ersten manuell fokussierten Bilder auf einem Computerbildschirm ergab folgende Erkenntnis: Ich hatte keine Ahnung, was ich da eigentlich tat. Aber andere schaffen’s doch auch, oder nicht? Manche Objektiv-Schmieden machen sich noch nicht einmal die Mühe, überhaupt ein Autofokus-System in ihre Linsen zu bauen, irgendwie muss es also möglich sein.

Portrait einer jungen Frau

Früher, als die Leute noch auf Film fotografierten, gab es lange Zeit überhaupt keinen Autofokus, wie hat das denn da funktioniert? Da gab es verschiedene Mattscheiben, die dem Nutzer das Fokussieren erleichterten. Die wohl am meisten genutzte war die sogenannte Schnittbild-Mattscheibe. Diese Scheibe hat einen Kreis in der Mitte, der horizontal geteilt ist. Das Bild in der oberen Hälfte des Kreises wird versetzt zum Bild in der unteren Hälfte des Kreises dargestellt.

Würde man eine Person in diesem Kreis sehen, dann würde es so aussehen, als wäre diese Person in der Mitte durchgesägt und Ober- und Unterkörper etwas nach links bzw. rechts versetzt. Dreht man jetzt den Fokus auf die Person, dann passen obere und untere Kreishälfte perfekt zusammen, der Fokus „sitzt“. Klingt jetzt kompliziert, aber wenn man einmal durch den Sucher schaut, versteht man sofort, was man tun muss. Das klang jedenfalls genau nach dem, was ich suchte.

Leider hatte Canon für meine EOS 550D nicht vorgesehen, dass die Mattscheibe gewechselt wird. Dennoch gab es für ca. 25 € auf dubiosen Hong-Kong-Webseiten Schnittbild-Mattscheiben für dieses Kameramodell zu kaufen. Okay, den Preis war es mir wert, auch wenn ich ewig darauf warten musste.

Stolz wie Oskar befreite ich mein Wohnzimmer so weit es eben ging vom Staub und meine arme Kamera musste eine 30-minütige Operation über sich ergehen lassen, in der ich mit filigranen und teils wirklich komplizierten Bewegungs-Kombinationen meine alte Mattscheibe aus- und die neue einbaute.

Ein junger MannEine junge Frau

Es war ganz schön viel Aufwand für so ein kleines Stück Glas, aber ich war endlich soweit. Ich brachte die Kamera an mein Gesicht, schaute durch den Sucher und tatsächlich, da war er: Der Kreis mit den zwei Hälften, die ich perfekt übereinander setzte, abdrückte und… unscharf? Wie jetzt? Nochmal… unscharf! Ich hatte tatsächlich so viel Aufwand und Schweiß investiert, nur um am Ende festzustellen: Kaufe keine komplizierten Kamerateile für kleines Geld aus Hong Kong.

Damit stand es 2:0 für den manuellen Fokus. Meine nächste Herangehensweise erwies sich allerdings als wesentlich fruchtbarer. Moderne Digitalkameras bieten alle die Möglichkeit des sogenannten Live-View-Modus und der eignet sich tatsächlich super, um manuell zu fokussieren. Normalerweise hat man die Möglichkeit, den Bildausschnitt auf dem Display nochmal heranzuzoomen, was das Scharfstellen zusätzlich erleichtert.

Genau so sah dann auch lange Zeit mein Fokus-Workflow aus: Ich schaltete meine Kamera auf Live View um, rückte den Bildausschnitt zurecht und zoomte dann an die Stelle, an der ich den Fokus haben wollte. Jetzt ließ sich das Bild wunderbar und ohne große Probleme scharfstellen und ich hatte es endlich geschafft, erfolgreich manuell zu fokussieren. Zu dieser Zeit fotografierte ich sowieso hauptsächlich Natur- und sehr ruhige, unbewegte Motive, wofür sich diese Methode wunderbar eignete.

Zwei Personen und eine Laterne

Bis ich anfing, Menschen vor meine Kamera zu stellen und mit Live View zu fokussieren. Habt Ihr das schon einmal probiert? Irgendwie peinlich, oder? Ihr habt eine super Location, super Licht, Euer Modell ist in Pose geworfen und wartet nur noch darauf, dass Ihr den Auslöser drückt. Und was macht Ihr? „Warte…“ – Bildausschnitt heranzoomen – „Warte…“ – am Fokusring drehen – „Warte, hab’s gleich…“ – Bildausschnitt wieder rauszoomen und die Komposition nochmal korrigieren – „Ahhh, Mist, jetzt hast Du Dich aus dem Fokus rausbewegt…“ – alles wieder von vorn.

Dieser ewige Fokus-Prozess hat mir bei der Portraitfotografie wirklich viele Dinge zerstört. Die Stimmung, die Spontaneität und vor allem die Kommunikation zwischen Modell und Fotograf. Außerdem kann man eine Tatsache nicht abstreiten: Ein Fotograf, der sich die Kamera ca. 15 cm vor sein Gesicht hält und wie gebannt auf das Display starrt, erinnert einfach wesentlich mehr an einen nervigen Touristen als an einen Künstler.

War es das also mit dem manuellen Fokussieren? Mein Schwerpunkt verlagerte sich immer weiter auf die Portraitfotografie und für mich war klar, dass ich auf keinen Fall weiterhin mit dem Live View Menschen fotografieren wollte. Es war aber noch etwas anderes klar: Ein Upgrade auf Vollformat musste demnächst durchgeführt werden. Das hat mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet.

Eine Frau und ein Cello

Habt Ihr schon einmal direkt hintereinander durch den Sucher einer Vollformat- und dann durch den einer Crop-Kamera geschaut? Ich musste eine halbe Stunde lang lachen, als mir klar wurde, was ich die letzten Jahre alles verpasst habe. Der Sucher meiner neuen 5D Mark II war einfach größer, heller und formatfüllender als alles, was ich bisher gesehen hatte. Na also, das sollte mir doch auch beim Fokussieren neue Möglichkeiten bieten!

Etwas Recherche brachte mich dann bald darauf, dass Canon extra für diese Kamera (und übrigens auch für die 6D) eine Mattscheibe mit dem Namen „EG-S“ verkauft, die speziell für das manuelle Scharfstellen gebaut wurde. Konkret heißt es in der Produktbeschreibung: „Erhöht die Kontraste und erleichtert dadurch das manuelle Fokussieren.“

Klingt jetzt etwas weit hergeholt, funktioniert aber tatsächlich! Die Mattscheibe hebt scharfe von unscharfen Bereichen viel stärker ab, was die Trefferquote beim Fokussieren extrem erhöht. Allerdings erfordert diese Methode einiges an Übung. Ich fühlte mich anfangs ein wenig wie beim Augenarzt. Ich stellte scharf, vertraute aber noch nicht genug auf meine Fähigkeiten, deshalb drehte ich noch etwas weiter am Fokusring und fragte mich dann innerlich: Besser oder schlechter?

Eine Person im Wald

Es war immer noch ein extrem langsamer und unbeholfener Prozess, aber mit mehr Übung und Erfahrung wurde ich immer schneller. Bis ich irgendwann sogar den Autofokus übertreffen konnte. Während bei anderen Fotografen noch der kleine Motor im Objektiv summte, hatte ich schon drei Bilder geschossen. Bei schlechten Lichtverhältnissen sogar fünf.

Zudem war mein Ausschuss aufgrund fehlfokussierter Bilder praktisch bei null. Der „Käfig“, der durch die wenigen Fokusfelder meiner Kamera früher bestand, war ebenfalls aufgebrochen. Ich konnte scharfstellen, was immer ich wollte und musste dafür nicht einmal die Kamera bewegen.

Als ich mir kürzlich die Fujifilm X100s als Reisekamera zulegte, lernte ich eine vollkommen neue Methode der Fokushilfe kennen, das sogenannte „Focus Peaking“. Dabei werden die Kanten von fokussierten Bereichen durch überspitzte weiße Linien hervorgehoben, was wirklich wunderbar funktioniert. Bei der X100s lässt sich das Ganze sogar im digitalen Sucher darstellen, wodurch man sich wiederum mehr als Fotograf fühlen kann und nicht ständig auf das Display an der Rückseite starren muss.

Manueller Fokus bedeutete für mich Beschleunigung und Entschleunigung zugleich. Mittlerweile fotografiere ich ganze Hochzeiten zu 100 % manuell und treffe auch bewegte Motive ohne Probleme. Nach so viel Übung und Schweiß drehe ich einmal am Fokusring und weiß ganz genau, wann die Schärfe getroffen ist und wann nicht.

Gleichzeitig heißt es aber auch, dass ich mir, wenn ich genug Zeit habe, viel mehr Gedanken über mein Bild machen und die Schärfe millimetergenau dort setzen kann, wo es das Bild am meisten bereichert. Egal ob es kleine Äste sind oder sogar Haare. Ich hatte sehr schnell das Gefühl, das manuelle Fokussieren bringt mich dem Bild noch ein ordentliches Stück näher und zwingt mich vor allem dazu, mir intensiver Gedanken darüber zu machen, was scharfe und unscharfe Elemente in meinen Fotos bedeuten.

Eine junge Frau mit Wunderkerzen

Wenn Ihr das manuelle Fokussieren selbst ausprobieren wollt, kann ich Euch ein paar Tips geben, die ich vor einigen Jahren selbst gern bekommen hätte:

Startet mit Tele-Festbrennweiten, also alles ab 85 mm. Zum Einen ist der Sucher durch die offene Blende schön hell, zum Anderen lässt sich aufgrund der hohen Freistellung der Fokus sehr leicht erkennen. Geht erst mit etwas Übung auf weitwinkligere Brennweiten. Ab 35 mm wird es verdammt schwierig und erfordert schon einiges an Erfahrung. An einer Vollformatkamera ist es zudem noch um einiges einfacher, da der Sucher wesentlich größer und heller ist als an Crop-Kameras.

Habt Ihr „nur“ eine Crop-Kamera und wollt trotzdem manuell fokussieren, dann versucht es entweder mit der Live-View-Methode oder recherchiert mal, ob es für Euer Kamera-Modell eine Mattscheibe mit Mikroprismen gibt. Diese hatte ich kurz vor meinem Upgrade auf Vollformat ausprobiert und war sehr angetan.

Einfach war mein Weg nicht und vor allem nicht kurz. Aber gelohnt hat es sich definitiv. Ich bin in der Anfangszeit teilweise von Shootings ohne ein einziges scharfes Bild nach Hause gekommen, aber ich habe es immer weiter versucht und fühle mich dadurch mehr mit der Fotografie und meinen Bildern verbunden als jemals zuvor.

Zugegeben, es ist mittlerweile schon viel Arbeit: Manuelles Belichten, Bildkomposition, Kommunikation mit den Modellen, manuelles Fokussieren. Aber dafür fühlt sich jedes Bild an wie ein handgemachtes Unikat, bei dem ich volle Kontrolle über jede Einzelheit habe.

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