Eine Frau hält sich ihre rosa Brille mit dem Mittelfinger.
10. November 2014 Lesezeit: ~12 Minuten

Teufelszeug oder Spielkram

Ich benutze Instagram, seitdem es öffentlich verfügbar war und neben dem Umstand, dass ich darüber meine Liebe zur Fotografie entdeckt habe, verschafft es mir bis heute die Möglichkeit, mit herausragenden Fotografen aus aller Welt in Kontakt zu kommen. Schon relativ früh stieß ich dabei auf die New Yorker Fotografen Sion Fullana und Anton Kawasaki. Beide sind mehrheitlich dem Genre Straßenfotografie zuzuordnen, lassen sich darauf aber nicht festlegen.

In diesem Artikel möchte ich Euch Sion Fullana vorstellen, der neben der Straßenfotografie auch spannende Portraits zu bieten hat, in einem weiteren Artikel folgt dann das Interview mit seinem Ehemann Anton Kawasaki.

Ich habe Sion zu verschiedenen Themen befragt, zuerst natürlich, wie er überhaupt zur Fotografie kam. Während Instagram für viele Menschen überhaupt erst die Tür für die richtige Fotografie aufstieß, kam Sion schon früh mit der Kamera in Kontakt.

Wie kamst Du zur Fotografie – und warum gerade Straßenfotografie und Portraits?

Mein ganzes Leben war ich schon von der Macht der Bilder und der Möglichkeit, damit Geschichten zu erzählen, fasziniert. Ich habe Comics verschlungen, seit ich acht Jahre alt war, später studierte ich Journalismus und Film.

Ich weiß, wie man Geschichten erzählt und Fotografie hat mich immer begeistert, auch wenn mich der technische Aspekt eher abgeschreckt hat, weil ich dachte, dass mir die Fähigkeit und das Auge fehlte, um sie in mein Schaffen zu integrieren.

Dann zog ich 2006 nach New York und arbeitete als freiberuflicher Journalist. Dadurch hatte ich genug freie Zeit, um die Stadt zu Fuß zu erkunden. Die Energie und die faszinierenden Menschen, die man an jeder Straßenecke finden konnte, waren der Beginn meiner Liebe zu New York.

Vier Polizisten an einer Wand.

Mein Ehemann Anton (damals noch mein Freund) schenkte mir zum Geburtstag im Juli 2008 ein iPhone 3G. Mobile Fotografie und ihre Möglichkeiten fand ich schon immer interessant, meine ersten Gehversuche unternahm ich mit einem Motorola Razr, das ich allerdings irgendwann auf einem meiner Streifzüge verloren hatte.

Sobald ich das iPhone das erste Mal mit auf die Straße nahm, konnte ich nicht mehr aufhören, zu fotografieren. Ich begann, meine Bilder auf Flickr zu posten, nur wenige Monate später begann ich meine Karriere als Fotograf und genau das hat mein Leben von Grund auf verändert.

Meine Vorliebe für Straßenfotografie und Portraitarbeiten rührt sicher von meinem Interesse an der conditio humana, dem Menschsein an sich, her. Es ist schon eine Kombination aus urbanem Voyeurismus und Mitgefühl.

Ich liebe die Interaktionen, die man auf der Straße zu sehen bekommt, und auch, wenn das etwas abgedroschen klingt, um mit Cartier-Bresson zu sprechen, ich bin besessen davon, diese „decisive moments“, diese entscheidenden Momente einzufangen; nicht notwendigerweise die ganz verrückten Geschichten…

Es können winzige Momente von Interesse sein, nur eine einzelne Person, die an mir vorbeigeht oder die ich an einer Straßenecke sehe. Es geht mir darum, diese flüchtigen Funken von Emotion, Körpersprache, diese kleinen Gesten einzufangen und zu bewahren – vergangen in einem Augenblinzeln, wenn man schnell geht und achtlos ist gegenüber dem, was und wer einen umgibt.

Matrosen haben Spaß.

Ich mag es, diese Fragmente des alltäglichen Lebens ganz fremder Menschen festzuhalten, ich suche nach Bedeutung und den Details quasi zwischen den Zeilen. Ich habe auf Backspaces ein Fotoessay verfasst, „Die Ethik des Unsichtbarseins“, in dem ich mein Vorgehen erkläre, vom äußersten Respekt gegenüber meinen Motiven und dem Versuch, ihnen Würde zu geben.

Deine Portraits sind bemerkenswert. Du beschreibst sie als „cinematografisch“, beeinflusst durch den Film. Sind Deine Portraits Auftragsarbeiten oder verwendest Du Szenarien, die Du vorfindest, um Fremde abzulichten? Und wenn es beauftragte Portraits sind, wie sieht die Arbeit mit dem Kunden aus, um auf das gewünschte Ergebnis zu kommen?

Es freut mich, dass ich mehr über meine Portraits erzählen kann und danke für das Kompliment! Ich erhalte selten die Gelegenheit, darüber zu sprechen und doch ist das ein Genre, das mich nicht loslässt und das ich immer weiter ausloten möchte.

Mein Studium der Filmwissenschaften liefert den Hintergrund für den filmischen Look. Wenn man sich nur ein Bild eines Darstellers in einem Film ansieht, erhält man diese Kombination aus Geschichte und Emotion, mit einem Kontext, der es ermöglicht, die Person entweder besser zu verstehen oder sie im Gegenteil eher mysteriöser zu machen.

Im besten Falle möchte man, dass der Betrachter eine der beiden Reaktionen empfindet oder dass er sich anstrengen muss, um zu verstehen, was er da sieht; dass er sich darüber Fragen stellt.

Portrait eines Paares, im Vordergrund der Mann.

Wenn ich Portraits fotografiere, dann handelt es sich entweder um Auftragsarbeiten oder um Projekte mit einer von mehreren „Musen“, mit denen ich gern zusammenarbeite und die es mir erlauben, neue Erzählweisen mit der Kamera auszuprobieren.

In New York bin ich glücklich genug, gute Freunde zu haben, die Schauspieler oder Künstler sind, die keine Scheu vor der Kamera haben und gern in eine Rolle schlüpfen. Es ist wirklich ein Traum, immer wieder diese Chance nutzen zu können.

Mit jedem neuen Portrait versuche ich zuerst, die Person, die ich fotografiere, genauer kennenzulernen. Sei es nun, dass ich mehr über ihren Geschmack erfahre, ihre Persönlichkeit, ihre Vorlieben oder dass ich durch meine Intuition und mein Einfühlungsvermögen etwas erfahre.

Wenn ich in der Lage bin, die Energie meines Motivs zu spüren, dann kann ich versuchen, sie an meine Vision heranzuführen, um so zu einem fesselnden Bild zu kommen. Manchmal versetzt sie das in Erstaunen, es kann sie schockieren, wenn sie sich in diesen Bildern sehen.

Susan Sontag schrieb einmal, dass jemanden zu fotografieren bedeutet, dass man Zugang zu einem sehr intimen Teil eines Menschen bekommt, den diese, für gewöhnlich nicht derart greifbar, in Form eines Portraits sehen. Ich denke, das trifft es gut.

Eine Frau mit Schirm im Regen.

Ich sehe viele Raucher in Deinen Bildern – ist das eine Sache der besonderen Ästhetik, der Stimmung oder gibt es hier andere Motive, speziell unter dem Gesichtspunkt, dass Rauchen in den USA so sehr geächtet ist?

Tja, das ist eine spannende Frage, die Antwort ist nicht so einfach. Ganz offensichtlich ist die Ästhetik großartig und sehr fotogen, wenn Rauch mit ins Spiel kommt, atmosphärisch dicht und eben auch wieder sehr filmisch.

Dass ich mich so sehr zum Rauchen hingezogen fühle, fasziniert mich selbst. Es ist mir als ehemaligem Raucher klar, wie sehr Rauchen der Gesundheit schadet und dass meine Bilder eher dazu beitragen, Rauchen als „cool“ darzustellen.

Ich bin mir dieses Dilemmas sehr bewusst, auch darüber habe ich mich in einem Fotoessay ausgelassen, „Die Dichotomie des Rauchens“.

Ein rauchender Mann.

Wo ziehst Du die Grenze zwischen Straßen- und Dokumentarfotografie? Viele würden Deine dokumentarischen Aufnahmen eher der Straßenfotografie zuordnen.

Das stimmt! Die Grenzen sind hier fließend und auch Fotojournalismus spielt bei mir eine Rolle. Wo ist die Grenze? Meiner Ansicht nach zielt die Straßenfotografie eher auf einzelne Bilder ab, die eine Geschichte für sich erzählen können, durchaus mit einem künstlerischen Ansatz.

Dokumentarfotografie ist für mich eher projektorientiert und kann auch Portraits beinhalten, um eine tiefergehende, nuancenreichere Geschichte zu erzählen, mit mehr Kontext, über ein Thema, eine Person oder Gruppierung, eine Firma, ein Ereignis.

So gesehen kann ein relevanter Teil des Werks eines Straßenfotografen ebenso zu einer Dokumentation werden, auch wenn das bei der Betrachtung einzelner Bilder so noch gar nicht klar oder beabsichtigt war.

Was ich am Genre der Straßenfotografie so mag, ist, dass sie die Realität eines längeren Zeitraums abbilden kann.

Kämpfende Männer mit Publikum.

Ich kann mir Bilder der letzten zehn Jahre in 20 Jahren ansehen und bin in der Lage zu sehen, wie sich Menschen kleideten, was sie in der Stadt machten (ein Buch lesend oder wie sich die Mehrheit versunken im Smartphone durch die Stadt bewegt), welche Hunderassen beliebt waren, ob die Menschen insgesamt fröhlicher oder bedrückter aussahen, wie viele Menschen einsam und verloren in der Menge aussahen, in einer großen Stadt wie dieser.

Wenn wir uns Straßenfotografie näher ansehen, wie bewertest Du das? Derzeit sieht man eine enge Begriffsdefinition: Farbe, unbeschnitten, ungestellt, keine „künstlerische“ Bearbeitung.

Hilft diese Kategorisierung Deiner Meinung nach dem Genre, um den zeitgenössischen ästhetischen Geschmack zu treffen? Ich persönlich fühle mich durch solche Anforderungen eher eingeengt, wenn ich sehe, wie viele Möglichkeiten die Straßenfotografie eigentlich bietet.

Ganz ehrlich: Solche Regeln, Dogmen oder wie auch immer man es nennen mag, habe ich immer sehr deutlich abgelehnt: Man sieht in sozialen Netzwerken wie Instagram Tags wie #NoCrop oder #NoFilter und es gibt diese Puristen, die nur die analoge Fotografie für echt halten und meinen, dass mobile Fotografie Teufelszeug oder Spielkram ist.

Eine Person schützt sich mit einer Zeitung auf dem Kopf vor dem Regen.

Das lässt mich immer schaudern. Umgekehrt ist es grauenhaft zu sehen, was manche Leute unter dem Etikett „Straßenfotografie“ posten: Das Bild eines Fensters oder eine Ampel auf einer Straße ohne Menschen; Spielereien mit selektiver Farbe, wo nur ein Detail farbig ist und der Rest schwarzweiß; extreme Vignetten oder Unschärfe, die nur dazu dient, den Hintergrund auszublenden; Krücken, die nur dazu da sind, schlechte Kompositionen auszugleichen; oder einfach Bilder, die so künstlich sind, dass sie eher wie ein digitales Gemälde als wie eine Fotografie aussehen.

Straßenfotografie basiert auf echtem Leben, es geht um die Geschichte, um den Inhalt und nicht um den Look oder irgendwelche Spielereien. Wenn der Betrachter zuerst die Vignette oder die Unschärfe wahrnimmt, die Textur oder den Rahmen, bevor er das Motiv sieht, dann ist das ein Problem.

Dennoch bin ich der Überzeugung, dass jeder Künstler eine klare Vorstellung davon haben sollte, was er mit der Geschichte im Bild ausdrücken will und wenn das bedeutet, dass nicht gewollte Elemente weggeschnitten werden oder dass das Bild in schwarzweiß die Stimmung besser transportiert bzw. Farben die Aufmerksamkeit vom Motiv abziehen, dann sind solche Operationen absolut legitim.

Was das „ungestellte“ angeht, so gibt es da ja hitzige Debatten rund um das, was ein Bild zur Straßenfotografie macht. Manche Menschen sehen alles, was draußen fotografiert wird und nicht Landschaft darstellt, als gültig an.

Für mich beginnt Straßenfotografie da, wo ein Bild unbemerkt und unposiert aufgenommen wurde, wenn man selbst „unsichtbar“ ist. Straßenportraits sind Bilder, bei denen mein Motiv sich meiner Anwesenheit bewusst ist und/oder für mich posiert. Diese Unterscheidung ist relevant für die Art des Bilds, das man so bekommt.

Diverse Portraits, zwei an der Zahl.

Benutzt Du auf der Straße nur das iPhone oder auch herkömmliche Kameras, vielleicht sogar Film?

Für meine Portraits oder andere Auftragsarbeiten nutze ich alle möglichen Kameras, Spiegelreflex ebenso wie Film oder Polaroid.

Auf der Straße gehe ich davon aus, dass ca. 95 % meiner Bilder mit einer mobilen Kamera gemacht wurden und ich bin ein sehr aktiver Verfechter dieses Werkzeugs, nicht zuletzt wegen seiner Unauffälligkeit und weil es so praktisch ist.

Es ist immer dabei und wenn man erst einmal die wesentlichen Apps verstanden hat, ist man schnell und immer bereit für das nächste Bild, ohne sich große technische Gedanken machen zu müssen.

Situationskomik einer Kunstausstellung.

Man muss, mangels Zoom, nah ans Motiv, das hat den Vorteil, dass man Teil des Geschehens wird und die Geschichte besser erspürt, außerdem kann man sich mehr auf die Komposition und die Stimmung konzentrieren, ohne sich nach jedem Bild neue Gedanken über die Einstellungen machen zu müssen.

Manchmal bringt ein „weniger“ mehr Freiheit mit sich.

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