Fotojournalismus, Andreas Herzau, Gorleben, Demonstration
05. November 2013 Lesezeit: ~19 Minuten

Was ist guter Fotojournalismus?

Wer heutzutage mit offenen Augen die Straßenfotografie-Szene und den Fotojournalismus betrachtet, wird über den Namen Andreas Herzau nicht nur einmal stolpern. Überall tauchen seine Bildbände* auf*, man sieht seine Werke in diversen Fachzeitschriften oder trifft ihn auf einem Workshop. Und falls man einfach nur googelt, findet man einen aussagekräftigen Eintrag in der Wikipedia.

Ich habe Andreas Herzau zum Interview eingeladen und ihn zu seinem wichtigsten Thema, dem Fotojournalismus, Fragen gestellt, die seiner Kritik an selbigem auf den Grund gehen.

Andreas, Du bist heute sowohl als Straßenfotograf wie auch als Fotojournalist international tätig. Wie hat das alles angefangen?

Ich will es mal so sagen: Es gab keinen Plan, auch wenn es heute ein wenig so aussieht. Ich hatte nach der Schule eine Typografen-Ausbildung zum Schriftsetzer in Tübingen gemacht und habe in diesem Beruf unter anderem auch Kataloge hergestellt, die sich mit Fotografie beschäftigten.

Später dann, während meines Zivildienstes, hatte ich mich auf ein Volontariat bei der Zeitschrift „Konkret“ in Hamburg beworben, da ich nochmals etwas Neues und Weitergehendes machen wollte. Glücklicherweise wurde ich damals genommen und habe dann ab Mitte der 80er Jahre als Redakteur und Journalist gearbeitet.

Bis Anfang der 90er Jahre – damals war der Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt schon einmal im Umbruch. Dann lockte mich die reine Bildsprache mehr als der reine Text. Letztlich habe ich damals mit dem Wechsel zur Fotografie meiner gestalterischen sowie meiner journalistischen Kompetenz eine neue Heimat gegeben.

Das Witzige ist, dass ich zwar als Fotojournalist bekannt geworden bin, meine Anfänge aber in der Straßenfotografie lagen. Ich wanderte damals schon durch Hamburg und versuchte, mir vom Alltag ein Bild zu machen. Diese Bilder bot ich dann Zeitungen wie der Taz oder der Zeit an, die diese dann sogar druckten.

New York © Andreas Herzau

Was zog Dich zur Straßenfotografie? Hattest Du Vorbilder?

Naja, das Leben auf der Straße erschien mir aufregend genug und ich hatte dort genug Spielraum, mich auszuprobieren. Und im Unterschied zu heute machte ich nur Einzelbilder. Das hatte den Vorteil, dass ich den Erfolgsdruck mindern konnte, da ich nur die einzelnen und eben gelungenen Bilder der Öffentlichkeit preis gab.

Ich hatte gegen Ende der 80er Jahre zusammen mit meiner Frau, der Soziologin Dr. Renate Ruhne, eine Serie über Flüchtlinge, die aus Ostberlin in die damalige BRD kamen, fotografiert und hatte eine Ahnung bekommen, wie schwierig es ist, eine Serie zu erarbeiten und durchzukomponieren. Allerdings weiß ich heute auch, welche ungeahnten Möglichkeiten eine Serie bietet. Welche Gestaltungs- und inhaltlichen Möglichkeiten sich für mich dadurch ergeben.

Erst heute, nach fast 20 Jahren, bin ich an einem Punkt, an dem ich mich wieder von der Serie im narrativen Sinn lösen kann und möchte. Meine Vision heute wäre eine Serie, bestehend nur aus Einzelbildern. Also eine Serie, bei der es eine Meta-Ebene gibt, die diese einzelnen Bilder wieder zu einer Serie verschmelzen lässt.

Vorbilder? Ich weiß nicht, ich glaube ich hatte nie wirklich welche. Ganz am Anfang hatte mich die Formsprache der Fotografie am Bauhaus sehr angeregt, später waren es eher Themen, dann einzelne Autoren, die mich anregten.

Moskau © Andreas Herzau

Von der Straßenfotografie zum Fotojournalismus ist es quasi nur ein Katzensprung. Gab es ein Schlüsselerlebnis, das Dich in diese Richtung „geschoben“ hat oder war es eher ein längerer Prozess?

Weder noch. Ich wollte schlicht Fotojournalist werden und das wird man nicht unbedingt mit Einzelbildern. Zudem gab es Themen, die mich damals (wie heute) berührten und die ich Dank des Privilegs, Journalist zu sein, erforschen wollte.

Fotojournalist. Das klingt erst einmal groß und weit weg. Wie dürfen wir uns Deinen heutigen Arbeitsalltag (ungefähr) vorstellen?

Grundsätzlich teilt sich meine fotografische Arbeit in drei Bereiche auf: Ein Drittel besteht aus fotojournalistischen Aufträgen für Magazine und teilweise auch Tageszeitungen, ein weiteres Drittel sind PR-Aufträge und das letzte Drittel schließlich freie Projekte, die dann häufig als Bücher publizierte werden.

Manche Projekte entstehen auch aufgrund von Stipendien wie denen der VG BildKunst oder durch Einladungen beispielsweise vom Goethe-Institut. Wichtiger Bestandteil meiner Arbeit ist inzwischen auch die Lehre an diversen Hochschulen und meine Beratungstätigkeit für Unternehmen, die einen neuen visuellen Auftritt suchen und denen ich helfe, sich visuell neu zu positionieren.

In diesen verschiedenen Feldern unterscheidet sich die Art der Fotografie wenig, da ich mittlerweile das Glück habe, dass ich überwiegend aufgrund meiner Fotografie – oder wie man so schön sagt: der Bildsprache – gebucht werde. Dadurch werden mir in der Regel recht nette Aufgaben gestellt, allerdings hat es auch den Nachteil, dass diese Art Bilder nicht so oft in den klassischen journalistischen oder auch PR-Verwertungskontext passen. Sprich: Ich habe wenige Aufträge, aber wenn ich welche bekomme, dann größere.

Wenn man das nun konkreter fasst, heißt das für die letzten Monate: Eine Dokumentation über die Lage im Ost-Kongo, ein Essay über die Skulpuren-Ausstellung „Emscher Kunst“, eine Portraitarbeit zum Thema „Strukturelle Armut in Deutschland“, daneben noch kleinere Portraits und Minireportagen.

Gleichzeitig kümmere ich mich um eine kleine neue Publikation meiner iPolaroid-Fotografie, die, so hoffe ich, im kommenden Frühjahr erscheinen wird. Zwischendurch habe ich dann immer mal wieder an meinem Projekt „The Swiss“, einem subjektiven Portrait der Schweiz, weitergearbeitet.

The Swiss © Andreas Herzau

Du bist bekannt dafür, dem Zustand des Fotojournalismus gegenüber kritisch zu sein. Was besorgt oder stört Dich?

Ich kann nicht sagen, dass ich besorgt bin, aber es gibt ein paar Dinge, die in der allgemeinen Larmoyanz über die Lage des Journalismus und ihrer Macher und Macherinnen immer untergehen: Die meisten (foto-)journalistischen Arbeiten, die wir im angewandten journalistischen Bereich sehen, sind wenig überraschend, wenig intelligent und oftmals redundant oder vorhersehbar.

Das liegt vor allem daran, wie Themen in den Redaktionen geplant und gedacht werden. Oft geht es darum, eine schon am grünen Tisch vorgefertigte These zu bestätigen. Das meint, das Thema in Worte zu fassen, die begleitet werden von Bildern, die das, was die Worte erzählen, bebildern und bestätigen. Die eigentliche Aufgabe, die dem Journalismus zufällt – nämlich, etwas unabhängig vom Ergebnis zu ergründen, zu erforschen, das aufzuschreiben und/oder zu fotografieren und auch noch einzuordnen – wird vernachlässigt.

Fotojournalistische Strecken in Magazinen, die es ja durchaus hin und wieder gibt, haben aber im Kern nur die Funktion im „manufactumschen“ Sinn: „Es gibt sie noch, die guten alten Dinge.“ In der Regel wird von Zeitschriften damit signalisiert, dass man noch „echten“ Journalismus kann. Das Thema ist fast egal, es muss in die Heftmischung des jeweiligen Produktes passen und darf nicht zu sehr auf die Kacke hauen oder Leser verschrecken. Fotojournalismus ist heute – so wie wir diesen im angewandten journalistischen Kontext erleben – meist Attitüde und/oder Entertainment.

Das liegt jetzt aber nicht nur an den bösen, bösen Verlagen, sondern unter anderem auch an den Herstellern dieses Fotojournalismus, also den Fotojournalisten. Im allgemeinen Singsang über die guten alten und die heute schlechten Zeiten geht oft unter, dass man auf bestimmte Fragen und Anforderungen oft keine zeitgemäßen fotografischen Antworten hat.

Nazis © Andreas Herzau

Das liegt vor allem daran, dass sich die Fragen unserer heutigen Welt und die Art, wie diese sich mit ihren Problemen darstellt, nicht mehr mit einfachen Schwarzweiß-Antworten erklären lassen. Viele Themen und Probleme brauchen heute in der Erklärung Sowohl-als-auch- und keine Entweder-oder-Antworten. Das ist für ein so zweidimensionales Medium wie die Fotografie keine einfache Sache.

Hinzu kommt, dass auch Fotojournalisten die klassische Reportage oft als Attitüde nutzen, um den Mythos des (meist männlichen) taffen und kein Risiko scheuenden Fotojournalisten am Leben zu erhalten. Urs Stahle, ehemaliger Direktor des Museum Winterthur, formulierte dies mal sehr schön:

Die Reportage-Fotografie leidet insgesamt an stilistischer und gedanklicher Erschöpfung. Die Fotografen wissen zu gut, was ein gutes Reportagebild ist, es gibt eine Art von Akademismus der Reportagefotografie. Das ist ihre hausgemachte Krise, welche die Krise der Umstände ergänzt.

Dass darüber eine Diskussion gleichwohl notwendig und virulent ist, zeigt ein Artikel, der unter der Überschrift „15 Thesen zum Journalismus im 21. Jahrhundert“ auf dem Blog des Schweizer „Tagesanzeiger“ veröffentlicht wurde.

Dort schreibt Constantin Seibt, dass soziale Tatsachen – Fakten – lediglich ein Rohstoff sind und „ihre Richtigkeit ist insofern wichtig wie die Reinheit und Vollständigkeit von Zutaten beim Backen wichtig ist. Aber der Kuchen ist das noch nicht. Die Fakten müssen erst zu einer echten Geschichte werden: zu einer, die auch ohne jede Neuigkeit interessant wäre.“

Hier wird ein wesentlicher Aspekt der Diskussion über den Bildjournalismus aufgegriffen, denn das, was hier für den Textjournalismus gemeint ist, gilt auch für die journalistische Fotografie: Es gibt heute nur wenige gesellschaftlich relevante Themen, die noch nicht fotografiert wurden. Die klassische Frage: „Wie fotografiere ich eine Geschichte?“ hat sich gewandelt zur Frage: „Wie fotografiere ich heute eventuell schon Bekanntes?“

Denn der Überraschungsmoment, die Enthüllung, die einst Reportagefotografie so begehrt und interessant gemacht hatte, ist nicht mehr so einfach gegeben. Das allgemeine (Bilder-)Wissen ist heute derartig umfassend, dass das bloße „Herzeigen“ von Geschehnissen, Orten und Menschen nur selten als Erkenntnisgewinn wahrgenommen wird. Auch dann, wenn die Bilder handwerklich hervorragend sind.

Zwar brauchen wir die Fotografie, weil sie dem Journalismus das schnell erkennbare Versprechen des Wirklichen gibt, aber wir haben gelernt, zu differenzieren, schnelle Sequenzen zu lesen und Abstraktes zu dechiffrieren. Es gibt fast nichts, was so schnell lesbar ist wie ein Bild, wodurch ihm im Kontext des schnell konsumierbaren Internets eine besondere Bedeutung zukommt: Als schnell konsumierbarer Code, der einem Beitrag als Schlüsselanreiz Aufmerksamkeit verleiht und binnen Bruchteilen von Sekunden eine thematische Zuordnung ermöglicht.

Hier hat die Simplifizierung der Welt durch Schlüsselbilder ihren Nutzen. Sie haben die Funktion eines Wegeleitsystems im Dschungel der Informationen übernommen. Aber die Wirklichkeit erklären können sie uns nicht.

Prostitution © Andreas Herzau

Das erinnert mich an ein Wort von Brassaï, der sagte, dass für ihn die Fotografie ein Vorschlag ist, aber keine Erklärung. Um beim Thema zu bleiben: Was ist für Dich gelingender Fotojournalismus? Gibt es Namen, die Du hier nennen würdest?

Vorschlag – ja das verstehe ich. Ich für mich würde sagen, meine Fotografie ist ein Versuch; ein Versuch der Erforschung von gesellschaftlichen Realitäten und auch von Prozessen und vielleicht letztlich auch der Versuch einer Erklärung. Tja, was ist gelungener Fotojournalismus? Wir haben in meinem Freundeskreis mal gesagt, dass alles, was gesellschaftliche Relevanz hat, was den kulturhistorischen Kontext berücksichtigt, was überraschend fotografiert ist und in jedem Fall nicht in einem deutschen Magazin veröffentlicht würde – das könnte guter Fotojournalismus sein.

Aber mal Spaß beiseite: Ich habe dieses Rezept auch nicht. Aber ich wundere mich, wie wenig darüber diskutiert wird und wie wenig auch ausprobiert wird. Ich denke, dass einer der Grundfehler ist, dass heute Fotojournalismus immer noch als eine Kategorie von Fotografierenden begriffen wird. Fotojournalismus ist nicht gleich Reportage. Fotojournalismus kann Still-, Landschafts-, Sport- oder Portraitfotografie sein.

Da wir eigentlich schon alles gesehen haben, geht es ja viel mehr um die Interpretation dessen, was wir sehen. Wenn man so will, ist die journalistische Fotografie dort angekommen, wo sie schon immer war, nur dass wir etwas anderes glauben wollten: Nämlich (k)ein Dokument, sondern inszenierte Wirklichkeit. Wir können heute mit unserem visuellen Grundwissen die Menschen mit viel komplexeren Bildern konfrontieren und doch gewiss sein, dass diese verstanden werden.

In der visuellen Kommunikation wird ein Bild, neben Typografie und Text immer noch am schnellsten erfasst und gelesen. Wir sollten den Betrachtern ruhig etwas mehr zumuten, so wie es die Maler vor hundert Jahren auch taten, als sie sich scheinbar plötzlich dem Abstrakten zuwandten.

Aber das ist auch sehr formal. Es geht mir auch um den Gedanken, der hinter den Bildern oder deren Zusammenstellung steckt. Ich will es mal als eine Frage formulieren: Wie fotografiert man heute Armut? Das ist ein wirklich komplexes Thema – zumal in Deutschland. Es beginnt mit der Frage: Was ist Armut hierzulande? Ab wann ist jemand arm? Und woran sehe ich das? Sprich: Wie fotografiere ich das? Schlafsackverteilungen, Suppenküchen, Bettler und so weiter – all das kennen wir zur Genüge.

Aber was ist mit den Menschen, die zwei oder manchmal drei Jobs haben, um über die Runden zu kommen? Oder um eine andere Frage zu stellen, die mich auch sehr beschäftigt: Wie fotografiert man heute Krieg? Wie Krieg aussieht, wissen wir. Aber wie vermittle ich, was da passiert?

Wenn ich so nachdenke, ist ein wesentliches Merkmal journalistischer Fotografie für mich auch, dass ich als Betrachter nicht im Ansatz das Gefühl habe, dass da jemand an sein Publikum gedacht hat, als er oder sie das fotografiert hat.

Istanbul © Andreas Herzau

Woran liegt es Deiner Meinung nach, dass der Fotojournalismus heute so ist, wie er ist? Ganz praktisch: Was kann ich als Einzelner tun, damit ich nicht in dieselben Fallen tappe?

Das Wichtigste für einen Fotografen ist und bleibt natürlich das Fotografieren, aber entscheidend ist heute nicht mehr allein das Tun an sich oder ein (Macht-)Wissen über Technik, sondern die Reflexion über das, was man fotografiert und vor allem ist es wichtig, den Kontext, in dem man sich kultur- und fotohistorisch bewegt, zu berücksichtigen.

Fotografieren an sich ist banal und einfach. Die Technik spielt kaum mehr eine Rolle, ein gutes Bild im landläufigen Sinn erledigt die Kamera und diese muss heute nicht mehr teuer sein. Wir haben in den letzten Jahren eine Art Demokratisierung der Fotografie erlebt. Jeder und jede kann sich auf diese Weise äußern, allein bei Facebook werden täglich etwa 300 Millionen Fotos hochgeladen.

Die Frage ist also: Was kann und was muss ich tun, um überhaupt noch als intelligenter fotografischer Autor agieren zu können bzw. wahrgenommen zu werden? Vielleicht kann man es mit dem Klavierspielen vergleichen: Es gibt gute Pianisten wie Sand am Meer, alle spielen auf wunderbare Weise – und wesentlich besser als ich oder viele andere es jemals könnten – aber es gibt ein paar wenige, die da herausstechen und diese haben wohl etwas gefunden oder verstanden, was ihr Spiel anders, besser und vielleicht intelligenter macht.

Die Ursache dafür sehe ich im wesentlichen darin, dass jemand etwas vollständig durchdrungen hat, also bis in den letzten Winkel verstanden hat und dass es ein Anliegen gibt, das diese Person – ob Pianist oder Fotograf – antreibt. Voraussetzung dafür ist natürlich die hohe handwerkliche Fähigkeit.

Es geht heute darum, dass Bilder nicht mehr etwas zeigen müssen, sondern einen Gedanken zum Ausdruck bringen sollten. Das ist eine hohe Anforderung, aber darin sehe die einzige Möglichkeit, sich noch abzugrenzen. Kurz gesagt: Nachdenken hilft – auch beim Fotografieren.

Um noch kurz auf die erste Frage einzugehen: Woran es liegen mag, dass der Fotojournalismus heute so ist, wie er ist. Einmal denke ich, dass die meisten Fotojournalisten nach wie vor denken, dass, was nun bald 100 Jahre funktionierte, einfach so weiter funktioniert. Das andere ist natürlich, dass wir als Fotojournalisten uns auf einem Markt bewegen, wir müssen damit Geld verdienen.

New York © Andreas Herzau

Und die intellektuellen Ansprüche des Marktes sind so niedrig wie noch nie. Denn Journalismus ist neben all den ehernen Ansprüchen auch eine Dienstleistung, die sich auf einem Markt behaupten muss. Der Reflex aufgrund der schlechten Marktsituation ging eben nicht in Richtung Qualität und Haltung, sondern eher in Richtung schneller, weiter, bunter und billiger.

Überraschenderweise müssen wir Fotojournalisten ja auch Miete bezahlen, unsere Kinder ernähren und so weiter, daher machen wir natürlich auch das, was der Markt von uns verlangt. Der materielle Anreiz, der ja ein wichtiger Grund dafür ist, einen Beruf auszuüben, ist da, aber nicht für qualitativ hochwertigen und intelligenten Fotojournalismus.

All die Fotofestivals und Fotopreisausschreiben versuchen zwar, uns darüber hinwegzutrösten, aber wer heute gute Arbeit im Feld des Fotojournalismus machen will, steht außerhalb des Marktes. Wenn es gut läuft, dann goutiert der Markt eine herausragende fotografische Arbeit, es gibt dann auch etwas Geld dafür, was meist nicht im Verhältnis zum Aufwand der Arbeit steht und der Sinn der Veröffentlichung in den meisten Magazinen ist die schon von mir beschriebene Attitüde, dass man so etwas noch macht.

Letztlich geht es in der Welt der Zeitungen und Zeitschriften aber um Unterhaltung und nicht um Aufklärung und Verstehen, was eigentlich ein wesentliches Fundament des Fotojournalismus ist.

In der Regel steht in vielen Chefredaktionen nur noch die Frage im Vordergrund: Was will der Leser oder die Leserin lesen und kaufen? Mein Eindruck ist, dass bei den Antworten auf diese Frage die Leserschaft etwas unterschätzt wird und das hat schon so mancher Zeitschrift das Genick gebrochen.

Ruanda © Andreas Herzau

Welchen fotojournalistischen Bildungsweg würdest Du heute jungen, ambitionierten Menschen vorschlagen?

Als erstes sollte man sich sehr, also sehrsehr sicher sein, dass man das wirklich will. Diese Berufswahl sollte schon so etwas wie eine Berufung sein, denn 100 % Einsatz werden nicht reichen, sondern es sind eher 150 %, die reichen könnten. Wenn man das für sich klar beantworten kann, dann ist es fast egal, welchen Ausbildungsweg man nimmt.

Ich würde aber durchaus ein Studium empfehlen, vielleicht mit einem zeitweiligen Aufenthalt im Ausland. Das bietet einem in relativ kurzer Zeit die Möglichkeit, ein Fundament an Theorie und Praxis aufzubauen. Entscheidend ist aber, was man selbst daraus macht. Es ist einfach eine hohe Eigenmotivation von Nöten, um seinen Weg zu finden, diesen dann zu gehen und das über Jahrzehnte weiterzuführen und auch weiterzuentwickeln.

Für mich war die Auseinandersetzung mit meinen fotografischen Weggefährten immer auch eine wichtige Fortbildungsmöglichkeit. Allein die Auseinandersetzungen bei der SIGNUM-Gruppe waren extrem lehrreich, was meine Fotografie betrifft. Ohne diese Gruppenauseinandersetzungen wäre ich heute nicht der Fotograf, der ich bin.

„Einfach machen“ ist in jedem Fall der erste Schritt und man sollte nicht daran denken, dass man Fotojournalist werden will, sondern man sollte daran denken, was man mit seinen Bildern erzählen will. Der Rest kommt fast von allein, da gibt es eine gewisse Zwangsläufigkeit der Wege, die man beschreiten will und muss.

Und: Viele Erfahrungen muss man selbst machen, die kann man nicht erzählt bekommen oder theoretisch erlernen.

Andreas, ich danke Dir für dieses Interview mit lehrreichen Ausführungen!

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