07. Juni 2013 Lesezeit: ~5 Minuten

Jagdszenen in der Stadt

Ich gehe generell gern nah ran in meiner Fotografie. Ich will das Motiv beinahe riechen können, das Gefühl bekommen, mit ihm zu interagieren. In der Straßenfotografie trifft dies auf besondere Weise zu und es wirkt sich in kaum einem Bereich so stark auf meine Arbeitsweise aus.

Mit einem Teleobjektiv ist das Erlebnis Straßenfotografie nicht dasselbe, es macht unflexibel und verführt Dich dazu, an einer bestimmten Stelle herumzulungern, abzuwarten und dann nur auf den Knopf zu drücken. Du wirst dann mehr Voyeur als Fotograf. Für mich müssen es immer 50 oder 85 mm sein.

Meine ersten Versuche in dem Genre waren naturgemäß grottenschlecht: Personengruppen in der Fußgängerzone aus der Hüfte geknipst, kein tieferer Sinn erkennbar, bei jedem einzelnen Auslösegeräusch schoss mir die Angst vor der Enttarnung durch den Kopf. Die Sorge, dass jemand bemerkt, dass ich heimlich Leute fotografiere und mich in aller Öffentlichkeit lautstark zur Rede stellt. „Unerhört, junger Mann!“

Aber gleichzeitig entdeckte ich schon ganz am Anfang auch den unheimlichen Reiz darin, einfach vor die Tür zu gehen und nie zu wissen, wer mir an diesem Tag vor die Linse laufen würde.

Hamburg6 © Sebastian-Baumer

Meine Straßenfotos sind in erster Linie Portraits. Sicher bilde ich auch Leute in Situationen ab – hastige Radfahrer, Straßenmusiker bei der Arbeit, Kellner beim Rauchen in der Mittagspause, Touristen am Currywurststand und städtische Arbeiter in ihrem Job – und ich verstehe auch sehr gut die Faszination, die darin liegt, die Geschäftigkeit in der urbanen Umgebung festzuhalten, aber mir geht es wohl eher um die Menschen an sich.

Es war eine sehr frühe konzeptionelle Entscheidung, die Personen als körperliche Erscheinungen in den Fokus zu rücken. Wer sieht irgendwie interessant aus? Wessen Gesicht erzählt eine Geschichte?

Ich habe irgendwann bemerkt, dass ich (ganz unbewusst) viel öfter ältere Menschen als junge fotografiere. Es liegt wohl daran, dass sie viel unterschiedlicher wirken. Sie haben sich selbst schon gefunden und müssen ihre Invidualität nicht dadurch demonstrieren, dass sie alle dieselbe Kleidung und die gleichen Frisuren wie ihre Altersgenossen tragen.

Berlin © Sebastian Baumer

Izwischen habe ich gelernt, dass man erstens kein gutes Straßenfoto macht, wenn man Angst vor seinem Motiv hat und dass man zweitens ein sehr guter Beobachter mit schnellen Reflexen werden muss. Die Straßenfotografie hilft mir wie kein anderes Genre dabei, meine generellen Fähigkeiten als Fotograf zu schulen.

Ich muss mir in wenigen Sekunden bewusst Leute aus der Menge auswählen, die ich gerade sehe, mich richtig positionieren, beobachten, wo die Zielperson hinläuft, die mich interessiert, eine funktionierende Perspektive wählen, das Bild so schnell wie möglich mit den zur Verfügung stehenden Mitteln komponieren, im richtigen Moment die Kamera unauffällig in die richtige Richtung halten und in einem Zeitraum von weniger als einem Wimpernschlag fokussieren und abdrücken.

Es sind Jagdszenen.

Ich habe fast immer nur exakt einen Versuch, das einzufangen, was ich einfangen will und genau darin liegt für mich der große Reiz der Straßenfotografie. Hohe Konzentration und Präzision sind dafür erforderlich:

Du bewegst Dich, Dein Motiv bewegt sich, der Hintergrund verändert sich und Du willst auch noch möglichst subtil dabei vorgehen. In keinem Bereich produziere ich prozentual so viel Ausschuss, aber kein Bereich trainiert mich als Fotograf so gut.

Hamburg © Sebastian Baumer

Die Angst vor der Enttarnung und der dann vermeintlich folgenden Wut der Abgebildeten hat sich derweilen als völlig unbegründet erwiesen. Inzwischen ist sie sogar eher von der Angst verdrängt worden, das Motiv nicht zu erwischen oder das Bild zu versauen, weil die Person plötzlich merkt, dass Du sie fotografierst, denn dann ist der Zauber des Genres kaputt.

In aller Regel nehmen die Menschen zwar wahr, dass da jemand mit einer Kamera am Werk ist, aber sie kommen nur ganz selten auf die Idee, dass Du wirklich sie fotografierst. Dabei ist es fast egal, wie nah Du rangehst, sie glauben immer, Du fotografierst etwas, das hinter ihnen ist.

Amsterdam9 © Sebastian Baumer

Als ich vor etwa vier Monaten das erste Mal von einem meiner Motive angesprochen wurde, dachte ich: „Jetzt ist es endlich mal so weit und es gibt Ärger.“ Es war ein großer, stiernackiger Typ und er sagte zu mir: „Sorry, dass ich Dir gerade ins Bild gelaufen bin. Mit was für einer Kamera fotografierst Du denn da?“

Ich lächelte ihn an und beantwortete seine Frage. Wir kamen ins Gespräch und ich erzählte am Ende sogar, dass ich in Wahrheit versucht hatte, ihn abzulichten. Leider ging das Bild schief und ein nachgestelltes Straßenportrait ist für mich kein Straßenpotrait mehr, obwohl er tatsächlich anbot, dass ich ihn auch so fotografieren dürfe.

Er fand das ganze Konzept gut und nahm eine meiner Visitenkarten mit.

Ähnliche Artikel