06. April 2013 Lesezeit: ~5 Minuten

Die Stadt der Blinden

Literaturfotografie muss nicht zwingend die Handlung eines Werkes widerspiegeln; die Atmosphäre eines Buches einzufangen war mir in der folgenden Serie wichtiger.

In seinem Roman „Die Stadt der Blinden“ beschreibt der Literatur-Nobelpreisträger José Saramago eine durch eine Epidemie wie in ein weißes Meer gehüllte, erblindete Stadt.

Die Erblindeten werden in die Quarantäne einer verlassenen Irrenanstalt geschickt und als das Chaos ausbricht, stellt sich eine Frau, die sehen kann, der Anarchie entgegen. Als das System in der Abschottung auseinanderbricht und kein Soldat mehr da ist, der die wehrlosen Blinden zurückhalten kann, brechen die Blinden aus in eine blinde Welt, metaphorisch für eine Welt, die unfähig ist, Gut und Böse zu unterscheiden.

Die Bildserie zur „Stadt der Blinden“ wird, mit den vorliegenden, teilweise gekürzten Zitaten aus selbigem Buch, im Sommer auf einer Gruppenausstellung der Hochschule Hannover gezeigt.

1 - Diego León-Müller

Sollte es je dazu kommen, dass ein Soldat die verschossenen Kugeln zu rechtfertigen hat, dann wird er sicher bei der Fahne schwören, er habe aus Notwehr gehandelt, und hinzufügen, auch zur Verteidigung seiner unbewaffneten Kameraden, die in einer humanitären Mission unterwegs gewesen seien und sich plötzlich von einer Gruppe von Blinden bedroht sahen, die ihnen zahlenmäßig überlegen war. Am besten wäre es, die verhungern zu lassen, mit dem Tier stirbt auch das Gift.

Es gibt viele Arten, zum Tier zu werden, das ist nur der Anfang.

4 Diego León-Müller

Sie klopfte diskret an die Tür, zehn Minuten später war sie nackt, nach fünfzehn stöhnte sie, nach achtzehn flüsterte sie Liebesworte, die sie nicht mehr vorzutäuschen brauchte, nach zwanzig geriet sie ausser sich, nach einundzwanzig fühlte sie, wie ihr Körper vor Lust zerbarst, nach zweiundzwanzig schrie sie,
Jetzt, jetzt,
und als sie wieder zu Bewusstsein gelangte, sagte sie, erschöpft und glücklich,
Ich sehe noch immer alles weiß.

3 Diego León-Müller

Wie geht es Ihnen, Herr Doktor,
wir sagen dann
Gut,
dabei liegen wir im Sterben, das nennt man im Volksmund,
aus dem Herzen eine Mördergrube machen.

Wenn wir nicht in der Lage sind, ganz wie Menschen zu leben, dann sollten wir wenigstens versuchen, nicht ganz wie Tiere zu leben.

2 Diego León-Müller

Blind sein bedeutet nicht tot sein, aber tot sein bedeutet blind sein.

Wir würden uns schon beim ersten Gedanken kaum vom Fleck rühren, könnten wir immer alle Folgen unseres Handelns voraussehen, würden wir ernsthaft darüber nachdenken. Gute und Schlechte Ergebnisse unserer Worte und Werke verteilen sich über alle Tage der Zukunft, eingeschlossen auch jene endlosen, an denen wir schon nicht mehr hier sein werden.

5 Diego León-Müller

Dann drehte er sich zum Spiegel um, diesmal fragte er nicht,
Wie kann das sein,
er sagte nicht,
Es gibt tausend Gründe dafür, dass das menschliche Gehirn sich verschliesst,
er streckte nur die Hände aus, bis er das Glas berührte, er wusste, dass sein Abbild dort war und ihn anschaute, das Abbild sah ihn, doch er sah sein Abbild nicht.

6 Diego León-Müller

Die Augenlider aufgerissen, das Gesicht in Falten, die Augenbrauen jäh zusammengezogen, alles, jeder kann es sehen, durch Angst verzerrt. Mit einer plötzlichen Bewegung wird all das, was zu sehen war, hinter den beiden geballten Fäusten des Mannes verborgen, als wollte er noch im Innersten seines Hirns das letzte Bild festhalten, ein rotes, rundes Licht an einer Ampel.
Ich bin blind, ich bin blind.
Nichts, als wäre ich mitten in einem Nebel, als wäre ich in ein milchiges Meer gefallen.

8 Diego León-Müller

Da kommt der Nachbar am Arm geführt, aber keine kam darauf zu fragen,
ist Ihnen etwas ins Auge gekommen, das fiel ihnen nicht ein, und so konnte er auch nicht antworten,
Ja, ein milchiges Meer.
In dieser Nacht träumte der Blinde, er sei blind.

Ich hörte, dass es Menschen gibt, die erblindeten, da dachte ich darüber nach, wie es wohl wäre, wenn auch ich erblindete, ich schloss die Augen und probierte es aus, und als ich sie öffnete, war ich blind.

7 Diego León-Müller

Er versuchte sich vorzustellen, wie der Ort, an dem er sich befand, aussah, für ihn war alles weiß, leuchtend, strahlend, die Wände waren es und der Boden, den er nicht sehen konnte, und er ertappte sich bei dem absurden Gedanken, dass das Licht und das Weiß dort stanken.
Wir werden hier noch vor Entsetzen verrückt.
Er wusste, dass er schmutzig war, schmutzig wie wohl noch nie in seinem Leben.
Die Welt ist ganz hier drin.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Nachfahren von José Saramago.

Ähnliche Artikel