14. August 2012 Lesezeit: ~6 Minuten

Zehn Dinge

Als ich vor sechs Jahren meine ersten Bildversuche auf der Straße unternahm, war ich mir vieler Kniffe, die ich heute weiß und erlernt habe, nicht bewusst. Diese schriftlich zu reflektieren, ist für mich ein guter Weg, mir ihnen bewusst zu werden. Und so folgt eine sehr persönliche Liste, die weder Leitfaden noch How-To für Einsteiger sein will, jedoch einiges von meinem persönlichen Werdegegang enthält. Es sind zehn Dinge, die ich mir gewünscht hätte, zu wissen, als ich mit der Straßenfotografie begonnen habe.

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1. Hör auf Dein Gefühl

Schon damals hatte ich große Lust auf Straßenfotografie und den Stil, den ich damit verband. Irgendwas in mir wurde bewegt von den Straßenaufnahmen in Skate-Magazinen und so manchem Fotoband, den ich bei einem Freund durchblätterte. Da ich mich Monate zuvor jedoch für die Landschaftsfotografie „entschieden“ hatte, wollte ich mir keinen Wechsel mehr erlauben. Heute würde ich das anders machen. Ich würde die Entscheidung reflektieren, testweise revidieren und einen schleichenden Übergang zum neuen Sujet schaffen.
 

2. Natürliche Kontraste

Es ist eine Sache, ein Bild so zu bearbeiten, dass es bestmögliche Kontraste zeigt, aber es hilft zusätzlich, auf natürliche Kontraste zu achten. Soll heißen: Wenn ein Mensch in dunkler Kleidung vor eine helle Wand läuft und ich dann abdrücke (und nicht zwei Sekunden später vor der ebenfalls dunklen Wand), dann habe ich einen natürlichen Kontrast. Und der sorgt dafür, dass Betrachter dorthin sehen, was ich schließlich erreichen möchte. Selbiges gilt für Gegenlicht, Seitenlicht, Silhouetten und viele andere Dinge, die dafür sorgen, dass das Bild schon im Rohmaterial Kontraste enthält und dadurch an Wertigkeit gewinnt.
 

3. Mach Dich locker

Wenn ich mich daran erinnere, wie unentspannt ich auf der Straße war, weil ich ganz dringend, das perfekte Foto machen wollte, möchte ich mir manchmal in der Vergangenheit kurz auf die Schulter klopfen und sagen: „Ey, entspann Dich mal. Du kannst es nicht erzwingen. Halte die Augen offen und lass die Situationen kommen.“

Person im Seitenlicht vor einem dunklen Hintergrund

4. Weniger Fotos

Da ich früher wild und viel ausprobierte, hatte ich die Macke, zu oft den Auslöser zu drücken. Ich hatte dann von einer Situation um die 100 Bilder und somit auch das Problem, heraussuchen zu müssen, welches denn nun das beste ist. Heutzutage habe ich zwar auch den Finger ständig am Abzug und fotografiere auf Hochzeiten immer noch das Dreifache von meinem Assistenten, aber ich habe meine Rate drastisch reduziert. Auf der Straße entstehen im Schnitt ein bis zehn Aufnahmen pro Szene und ich konzentriere mich dabei besonders auf Punkt 8.
 

5. Mehr Fotos

Natürlich meine ich mit mehr Fotos nicht mehr Auslösungen, sondern mehr Fotos von unterschiedlichen Szenen. Denn das hochfrequentierte Auslösen habe ich darauf verlagert, die Zahl der Orte, die ich besuche und (mit Menschen) abfotografiere, zu erhöhen. So ist auch das Auswählen der Bilder abwechslungsreicher und die Ausschöpfung der guten Ergebnisse wird automatisch angehoben.
 

6. Zeit

Zu Beginn wollte ich, wie der aufmerksame Leser nun schon weiß, stets erstklassige Straßenaufnahmen machen. Doch ich war enttäuscht von der Tatsache, dass mir das nicht im Geringsten gelingen wollte und die Ausbeute sehr, sehr gering war. Heute ist mir klar, dass gut Ding Weile haben will. Und dass es da auch keine Abkürzung gibt. Weder über eine teuerere Ausrüstung, noch über die den Willen, es zu erzwingen. Erfahrung kannst Du nicht erzeugen, außer, beständig dran zu bleiben, geduldig mir Dir selbst zu sein und nicht aufzugeben.
 

7. Komposition ist König

Um eine Person in urbanem Kontext zu integrieren oder signifikant davon abzugrenzen, ist eine ausgewogene Bildkomposition zentrales Mittel der Wahl. Etliche Aufnahmen waren damals aufgrund meiner Unwissenheit nicht sorgfältig arrangiert – was natürlich zu Beginn des Fotografierens auch in Ordnung ist. Heute lasse ich mir jedoch reichlich Zeit damit, den „Rahmen“ des Bildes auszuloten und drücke erst ab, wenn ich tatsächlich dazu bereit bin. Das sorgt zusätzlich für eine innere Ruhe, ganz im Gegensatz zum hibbeligen Herumknipsen.

Person von hinten fotografiert vor einer Häuserwand

8. Warten auf die Person

Im Laufe der letzten Jahre habe ich mir angewöhnt, nach dem Ausloten der Komposition, die sich hauptsächlich auf die Architektur im Hintergrund beschränkt, zu warten. Auf was? Darauf, dass eine Person in meinen gesetzten Rahmen hineinläuft und das Bild vervollständigt. Das verlangt mir zwar viel Geduld ab, jedoch ist diese Art der Dokumentation um einiges produktiver, da der Großteil des Bildes – der Hintergrund – nicht ganz dem Zufall überlassen wird.
 

9. Position der Beine

Seitdem ich mich intensiver mit der Straßenfotografie beschäftige, habe ich entdeckt, dass die Beinstellung der Hauptperson wichtig ist. Heißt konkret: Eine Person, die läuft, ist leichter darzustellen, wenn die Beine in einer X- oder umgekehrten V-Form aufgenommen werden. Das ist mühelos durch eine Perspektive seitlich zur Person und nicht in Laufrichtung zu erreichen. Dies zu beachten hat auch den Vorteil, dass das Bild insgesamt graphischer wirkt und der Betrachter viel schneller die vorgestellte Person orten kann.

Ein Mensch läuft eilig mit dem Schirm zur Straßenbahn

10. Foto-Regeln my ass

Irgendwann, nach ein, zwei Jahren dachte ich: „Martin, jetzt lernste mal fotografieren.“ Und ich lernte Foto-Regeln. Ende. Nein, im Ernst. Es war gut, so manche Dinge kennenzulernen und zu wissen, die Drittel-Regel und solchen Kram. Jedoch hat es mir rückblickend am meisten geholfen, diese Hilfsmittel einerseits zu kennen, dann aber andererseits zu missachten und zu brechen, wo ich nur konnte. Denn immer dann, wenn ich dachte, „Pfuh, langsam wird’s langweilig“, half das Brechen sämtlicher Regeln, um wieder frischen Wind in die Bilder zu bringen. Heute ist es mir herzlich wurschd, ob eine Person rechts oder links oder in der Mitte (oder irgendwo anders) steht. Ich würde sagen: Kommt drauf an. Wichtig ist immer das Gesamtbild.

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