03. August 2012 Lesezeit: ~11 Minuten

Grauschleier

Zunächst wollte ich meine Kamera gar nicht mitnehmen und stattdessen einfach mein Mobiltelefon benutzen. Zu groß war die Unsicherheit, schließlich bin ich noch nie in Indien gewesen und hatte keine richtige Vorstellung davon, was mich dort erwarten würde. Ein knapp vierwöchiger Abenteuer-Trip über Weihnachten und Neujahr sollte es werden, um der Kälte Nord-Europas zu entkommen.

Vor nur wenigen Monaten bin ich aus Australien wiedergekommen, wo ich vier wundervolle Wochen Urlaub verbracht hatte, im Gepäck waren immer meine Kamera und auch mein Stativ. Indien jedoch versprach, eine ganz andere Erfahrung zu werden. Statt weißen Stränden, Grillabenden und paradiesischer Natur sollte mich etwas anderes erwarten: Dicht gedrängte Menschenmassen, Armut und Luftverschmutzung. Letztendlich entschied ich mich jedoch für die Kamera, denn im Laufe der Vorbereitungen und nach etwas Recherche reifte langsam die Idee für eine Fotoserie heran.

Nicht die hoffnungslos überfüllten Straßen oder die Armut der Menschen interessierten mich fotografisch, sondern der allgegenwärtige Smog, der sich zumeist sanft an die Städte schmiegt und den selbst die gleißende Sonne nicht ganz durchdringen kann. Dieses heiße und schmutzige Indien, das parallel zum Bollywood-Indien mit seinen bunten Farben und westlichen Shopping-Malls existiert, sollte mein Thema werden.

Die Ankunft in Neu-Delhi war dann fast schon surreal. Es dämmerte und dichter Nebel waberte auf den Straßen. Laternen und die Scheinwerfer der Autos konnten die Sichtweite nicht einmal annähernd verbessern, sodass die Mopeds, Autos und Menschen, die sich kreuz und quer über die Straßen bewegten, nur als schemenhafte Silhouetten erkennbar waren. Innerhalb von Minuten schnürte sich mir der Hals zu und ich musste mich konstant räuspern. Der Feinstaub hieß mich auf seine Art willkommen und setzte sich mit jedem Atemzug tiefer in meiner Lunge fest. Gute Voraussetzungen also für mein kleines Foto-Projekt.

Es sollte sich jedoch zeigen, dass dies nicht so einfach war, wie ich zunächst gedacht hatte, denn das Leben in Indien folgt anderen Regeln und in vielen Gebieten ist man häufig einer von nur wenigen Touristen auf der Straße. Ich liebe es beispielsweise, mit einem Becher Kaffee durch die Straßen zu schlendern und eine fremde Stadt zu erkunden. Das ist jedoch gänzlich unmöglich in vielen Ecken Indiens. Bereits nach einem Tag verhielt ich mich genauso wie alle anderen Touristen, die ich ursprünglich als arrogant wahrgenommen hatte und ignorierte die unzähligen Anfragen von Händlern, Rikscha-Fahrern und anderen Leuten, die etwas verkaufen wollten, denn sonst kommt man keine 100 Meter weit.

Die sandigen Straßen waren ein undurchdringliches Netz von unzähligen Menschen, kleinen Lädchen und Ständen, sodass ich schnell die Orientierung verlor. Ich verfiel also in eine leicht gehetzte Gangart und konnte zunächst nicht die Ruhe aufbringen, um Fotos zu machen. Dazu kam, dass ich mich mit meiner Kamera einfach unwohl fühlte; ein großer Teil der Menschen dort verdient weniger im Jahr als meine Ausrüstung wert ist.

Aufgrund dieser Umstände machte ich daher zunächst keine Fotos, sondern erst etwas später und auch nur, wenn ich glaubte, ein wirklich gutes Foto machen zu können. Ein zusätzlicher Anreiz für dieses Vorgehen war die Tatsache, dass es unser Gepäck – und damit auch meine Ersatz-Akkus samt Ladekabel – nicht nach Delhi geschafft hatten und noch im verschneiten London waren. Es sollte sich herausstellen, dass wir ganze elf Tage ohne dieses Gepäck auskommen mussten. Ich behielt daher die Ladestandanzeige meiner Kamera genauestens im Auge, da ich natürlich vergessen hatte, die Akkus vor Reiseantritt voll aufzuladen.

Ich ließ meinen Finger also die meiste Zeit vom Auslöser und die Kamera in der Tasche. Ganz anders als die vielen Einheimischen, die sich scheinbar nichts Schöneres vorstellen konnten, als ein Foto von mir zu machen, meistens zusammen mit ihren Freunden. Selbst Soldaten zeigten keinerlei Hemmungen und so posierte ich zusammen mit der halben Kompanie, während der Unteroffizier uns mit seinem Mobiltelefon fotografierte.

Ein anderes Mal sprach mich ein kleiner Junge vor einem Museum an, fragte mich nach meinem Namen und ob ich nicht auf seinem Schulblock unterschreiben könnte. Innerhalb von Sekunden war ich von der gesamten Schulklasse umringt und gab Autogramme.

Nach ein paar Tagen ging es nun von Neu-Delhi nach Rajasthan und ich hatte bisher noch kein einziges Foto gemacht. Ich gewöhnte mich nur langsam an diese andere Welt, in der ich mit meiner weißen Haut und den blonden Haaren ein Exot war. Meine Augen begannen jedoch bald von selbst, die Umgebung nach ansprechenden Motiven zu sondieren. In Jaipur erwischte es mich jedoch genauso wie viele andere vor mir: Die letzten Tage, in denen ich mich mit Freude dem indischen Essen gewidmet hatte, verlangten ihren Preis in Form eines verdorbenen Magens.

In den nächsten Tagen aß ich wenig bis gar nichts, versuchte jedoch trotzdem, an ein paar gute Motive zu kommen. Das kostete einiges an Kraft, sodass die wenigen Bilder, die ich machte, nicht gerade meine besten waren. Es ging mir jedoch bald etwas besser und ich begann, wieder leichte Kost zu mir zu nehmen.

Wir hatten Jaipur, die bunte Stadt der Handwerkskunst und der Basare nun hinter uns gelassen und verbrachten ein paar Tage in Jodhpur mit seinen farbenfrohen Dächern und dem großen Fort. Hier begann ich zum ersten Mal, wieder aktiv Bilder zu machen. Auch hier war der dunstige Nebel präsent und legte einen dichten Grauschleier über die bunte Stadt.

Ich hatte mich jedoch zu früh gefreut, denn aufgrund eines verhängnisvollen Abendessens konnte ich mich wieder über eine unfreiwillige Diät freuen. Auf dem Weg nach Udaipur verließen mich dann plötzlich meine Kräfte und die Tage ohne Essen und die Strapazen der Reise zwangen mich in die Knie. Gleichzeitig hatte sich unser Auto auch noch einen platten Reifen eingefahren. So fand ich mich in einem kleinen Dorf in den Bergen wieder und starrte mit leerem Blick und vor Erschöpfung leicht zitternd ins Leere.

Es vergingen ein paar Momente, ehe ich die zwei kleinen Kinder vor mir bemerkte, die mich mit großen Augen anstarrten und noch einige Momente mehr bis ich sah, dass uns auch die übrigen Menschen neugierig musterten, während ein etwa 16-jähriger Junge versuchte, unseren Reifen zu flicken.

Eines der kleinen Kinder vor mir sagte etwas und reichte mir einen Schokoriegel, den ich nach einigem Zögern und den zustimmenden Blicken der anderen annahm. Das war ein verdammt guter Schokoriegel und ich esse normalerweise keine! Irgendwie klärte sich mein Kopf an diesem Tag und meine Gedanken ordneten sich langsam. Von da an wurde alles besser und ich fühlte mich nicht länger im Chaos gefangen.

Udaipur, die Stadt am Wasser mit den wunderschönen Sonnenuntergängen, war es dann auch, wo ich einen Großteil meiner Bilder machte. Die Stadt ist umgeben von fernen Bergen und klammert sich an einen großen Hang, während unter ihr der Pichola-See liegt. Das Leben und die Menschen dort wirkten so viel mehr wie Urlaub als die hektische Großstadt, die wir mit Neu-Delhi hinter uns gelassen haben. Ich konnte von unserer Dachterrasse einige Bilder von den nebligen Bergen machen, doch ging mein Akku irgendwann zur Neige.

Kurze Zeit später verließen wir Udaipur wieder und machten uns zurück auf den Weg nach Neu-Delhi, wo wir endlich unser Gepäck in Empfang nehmen durften. Mit frischen Kamera-Akkus ging es dann nach Agra, zum Taj Mahal und kurze Zeit später bestiegen wir dann den Flieger nach Mumbai, eine Großstadt, die so ganz anders sein sollte.

Wenn Neu-Delhi das politische Zentrum Indiens ist, ist Mumbai der wirtschaftliche Nexus des Landes. Ein heißer brodelnder Moloch, in dem der Verkehr regelmäßig zusammenbricht. Die günstige Lage am Wasser und das sonnige Wetter werden durch den allseits präsenten Smog getrübt. Klimatisierte Shopping-Malls, Dachterrassen-Restaurants und ein verhältnismäßig aktives Nachtleben lassen die Stadt doch viel westlicher wirken als Neu-Delhi. Mumbai ist dadurch auch viel touristischer, sodass ich nun während der vielen Ausflüge und Wanderungen durch die Stadt ohne Probleme an der Vervollständigung meiner Serie arbeiten konnte.

Innerhalb dieser letzten Woche in Mumbai genoss ich die Annehmlichkeiten dort und fotografierte nach Belieben. Das Wetter war hervorragend, viel Sonne und immer dunstiger Nebel. Besonders gut ließen sich die Bilder vom Wasser aus schießen, da ich von dort in den Dunst fotografieren konnte. Ungefähr die Hälfte der Serie ist daher vom Wasser aus gemacht.

Letzten Endes war ich schon etwas wehmütig, als wir uns auf den Weg zurück in die Heimat machen mussten. Ich habe viel erlebt und viel gesehen während dieser Reise. Indien ist immer noch ein armes Land, das jedoch parallel zum neuen Indien existiert, das man in Mumbai findet. Doch auch Mumbai ist vor Armut nicht gefeit. Bettelnde Kinder treten heran, sobald man mit dem Auto an einer Ampel hält und es hat einen der größten Slums in Asien, in dem die Mehrheit der 17 Millionen Einwohner lebt, obwohl er nur einen Bruchteil der Fläche Mumbais ausmacht.

Als ich mir zuhause dann meine Bilder anschaute, musste ich darüber nachdenken, was ich da eigentlich fotografiert hatte. Fehlten da nicht die Menschen, ob sie nun auch sehr reich oder sehr arm waren? Die mitunter kolossalen Bauwerke, die eigentlich relativ neu waren, doch alt und verfallen aussahen wegen der Luftverschmutzung? All dies ist auf meinen Bildern letztlich nicht zu sehen, hat mich aber beeinflusst. Die ersten aufgeregten und stressigen Tage, ein Fremdkörper in einem fremden Land, kein Gepäck, Magenprobleme und die Erschöpfung, die über mir zusammenbricht.

Dann die langsame Erholung und schließlich das Eintauchen in diese fremde Welt, nicht mehr dagegen ankämpfen, sondern mich treiben lassen und alles in mich aufnehmen. All das hat dazu beigetragen, dass ich die Ruhe und Gelassenheit hatte, innezuhalten und meine Motive zu sehen. Die Kamera auszulösen war eigentlich nur noch die technische Umsetzung, doch das Foto zu „machen“, hat schon viel früher angefangen.

Das ist auch eine der Lehren, die ich von diesem Trip mitgenommen habe: Du siehst das spätere Bild nicht nur mit Deinen Sinnen, sondern auch mit Deinen vergangenen Erfahrungen und Erinnerungen. Das Medium ist dabei unerheblich. Meines ist ein Fotoapparat, doch ich bin es, der diese Fotos aus meinem Kopf in unsere Welt holt.

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