30. März 2012 Lesezeit: ~6 Minuten

Nein, Moment – das war auch ich

An einem heißen Sommertag vor zwei Jahren traute ich mich wegen meines Aussehens wieder nicht aus dem Haus. Ich hatte zu große Angst davor, dass die Leute mich sehen oder was sie von mir denken und sagen könnten.

Was hat er nur mit seinen Armen gemacht?
Warum hast du wieder zu schneiden angefangen?
Was sollen wir nur mit dir machen?
Weißt du, dass man das für immer sehen wird?
Du bist ja wieder so dünn, kannst du nicht mal mehr essen?
Bist du verrückt?

Also blieb ich, von meinen Gedanken getrieben, in meinem Zimmer eingeschlossen und habe das Stativ aufgebaut, die Kamera aufgesetzt, mich an den Schreibtisch gesetzt und einfach abgedrückt. Es entstand ein Foto, das viele meiner Narben zeigt, die ich mir selbst zugefügt habe – die äußeren und auch die inneren.

Warum ich das Foto damals gemacht habe, weiß ich leider selbst nicht mehr so genau. Vermutlich aus reiner Verzweiflung; aus Abscheu vor mir selbst; um mich jemandem zeigen zu können, sei es auch nur dem Internet. Aber vielleicht auch als Abschiedsbild, denn mir war zu dieser Zeit nicht sehr viel am Leben gelegen.

Dieses Foto war mein erstes mit Themenbezug auf Borderline und psychische Krankheiten. Im Laufe der Zeit entstanden hauptsächlich Klon- und Spiegelbilder, die die Spaltung meiner Gefühle darstellen sollen, die Uneinigkeit in mir selbst und mein verzerrtes Selbstbild.

Häufig stellen meine Fotos Fantasien oder Situationen dar, die ich selbst schon erlebt habe. Ich kann durch meine Fotos Gefühle zeigen, die ich nicht fähig bin, in Worten ausdrücken: Extreme Wut, Verzweiflung die mich verstummen lässt, Zwiespalt in meinem Inneren, tiefste Aggressionen auf mich selbst und unerträgliche Momente, in denen ich am liebsten nicht mehr existieren möchte.

Ich habe meine Selbstportraits bis jetzt nur wenigen Menschen gezeigt. Denn ich habe Angst vor der Ablehnung, der Zurückweisung, dem Unverständnis und vor der daraus folgenden Einsamkeit oder vor aufgezwungener Nähe.

Doch das Internet gab mir die Anonymität, um mich ohne Angst so zur Schau zu stellen wie ich wollte; ich mochte mich nicht mehr verstecken. Auch wenn es nicht im „echten“ Leben war, so konnte ich mich doch zeigen wie ich bin!

Doch habe ich auch im Internet negative Kommentare von Betroffen erhalten, die von den Bildern „getriggert“ wurden, die gezeigte Aggression widerlich fanden oder starke Vorurteile in den Bildern sahen. Doch will ich damit niemanden verstören, ich will nur mein Erlebtes darstellen. So verstehe ich „zu leben, ohne dabei zu sterben“ auch als Kunst.

Ich kann bis jetzt nur mit wenigen Menschen über meine Probleme sprechen und wenn ich es mache, stellt es sich als sehr kompliziert dar. Denn oft fehlen mir die richtigen Worte, um manche Gefühle oder Situationen zu beschreiben, da ich sie selbst nicht verstehe. Wenn ich nun mit den falschen Personen rede, ist das mehr Fluch als Segen.

Anders ist die Fotografie: Sie ist wie ein Rückschlagventil für mich, ich kann diese unerträglichen Gefühle in Bilder packen und muss sie anschließend nicht mehr spüren. Öfters kann ich mich dadurch vor selbstverletzendem Handeln abhalten, da der Druck der Gefühle nachlässt und damit auch der Druck, der mich zum Schneiden drängt.

Wenn ich meine fertigen Bilder betrachte, empfinde ich keine starken Gefühle. Ich bin wohl auf den Fotos zu sehen, doch sind die Bilder in Momenten entstanden, die für mich oft irreal wirken und in denen ich extrem depressiv und/oder aggressiv bin. Ich habe die Angewohnheit, wegzudriften, wenn ich Situationen nicht mehr aushalte, alles wirkt dann unwirklich. Dadurch kann ich nur selten mein vergangenes Handeln nachempfinden.

Meistens bin ich beim Betrachten nur etwas unzufrieden im Bezug auf Farbsättigung und Kontrast. Da sich meine Stimmung oft stark ändert, passt die Gestaltung der Bilder dann nicht mehr zu meinem aktuellen Empfinden. Doch ich kann nicht jedes Mal ein Bild neu bearbeiten, deshalb habe ich mich zur Zeit auf die Schwarzweiß-Fotografie verlegt, dadurch ist die Hürde der Farbsättigung weggefallen.

Doch ich sollte vielleicht umdenken, da es ist nicht wichtig ist, wie ich die Bilder jetzt wahrnehme, wenn ich die Bearbeitung damals treffend fand. Der positive Nebeneffekt der Schwarzweiß-Fotografie ist, dass ich so gut die Zwiespältigkeit und die Kontraste der Krankheit darstellen kann.

Ich versuche mit meinen Bildern nicht nur mir selbst Ängste zu nehmen, sondern auch die Betrachter zum Nachdenken anzuregen. Auch einen offeneren Umgang mit diesen Krankheiten zu fördern. Fast jeder ist von psychischen Krankheiten betroffen; entweder durch sich selbst oder indirekt durch Mitmenschen.

Doch wird alles verheimlich und vertuscht, dadurch wird es für Betroffene noch schwerer, sich Hilfe zu suchen oder sie anzunehmen. Oftmals können Menschen nichts für ihr Leiden und schaffen es nicht, sich zu öffnen, da sie nicht den Mut aufzubringen, der nötig wäre, um sich dem künstlich geschaffenen Tabu zu widersetzen. Da sich deshalb kaum jemand traut, sich zu outen, erfahren Betroffene untereinander wenig von der Existenz Gleichgesinnter in ihrer Umgebung und fühlen sich dadurch einsam und alleine gelassen.

Denn wer sagt den schon anderen, dass er sich gestern Abend selbst geschnitten hat, sich jede Nacht vor dem nächsten Arbeitstag fürchtet, sich viel zu fett findet, obwohl man im Untergewicht ist, jeden Tag allein auf der Couch hockt und in Depressionen verfällt oder sich ab und zu Drogen zuführt, um sich zu betäuben?

Ähnliche Artikel