28. Januar 2012 Lesezeit: ~7 Minuten

Escalator Studies

Man kennt das ja: Hundertmal gesehen, aber nie wirklich bemerkt. So geschehen bei mir und der Kopenhagener Metro. Jeden Tag bin ich mit den Rolltreppen runtergefahren, habe auf die Metro gewartet und mich zu meinem Bestimmungsort fahren lassen.

Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass dies in der Regel morgens auf dem Weg zur Arbeit war, zu dieser Tageszeit reicht meine Aufmerksamkeit nicht über die nächste Tasse Kaffee hinaus.

Doch eines Tages fielen mir dann die Linien und Formen der Rolltreppen auf, wie sie sich geradezu schwerelos quer durch den Raum ziehen, in die Höhe strecken oder in die Tiefe fallen. Ich fasste augenblicklich den Entschluss, dies bildlich festzuhalten.

Escalator Studies

Jeden Tag mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nutzte ich von da an, um die unterschiedlichen Rolltreppen der Stadt zu erkunden. Mir war sehr schnell klar, dass ich eine Bilderserie machen wollte. Es sollte jedoch eine Serie sein, auf der keine Menschen zu sehen sind, sondern nur die Architektur der Rolltreppen.

Ich musste daher ein Zeitfenster finden, in dem relativ wenig Menschen die Metro benutzen: Nachts. Ein paar Wochen später kam ich an einem Samstag kurz nach Mitternacht nach Hause und auf Anraten meiner Freundin fasste ich mehr oder weniger spontan den Entschluss, noch einmal mit der Kamera loszuziehen, um die erste Rolltreppe abzulichten.

Vor Ort angekommen, schlug meine Vorfreude jedoch sehr bald in Enttäuschung um, als ich feststellte, dass 18mm Brennweite noch zu viel waren. Ich war zu dicht dran und aufgrund der Konstruktion der Metrostation war es nicht möglich, den Abstand zu vergrößern. Also habe ich die Kamera wieder eingepackt und bin leicht frustriert wieder nach Hause gefahren, dem ersehnten Schlaf entgegen.

Die nächsten zwei Wochen verbrachte ich mit Nachforschungen über verschiedene Super-Weitwinkel-Objektive. Kaufen wollte ich erst einmal nicht, per Zufall fand ich jedoch ein Geschäft, das Objektive für umgerechnet 27€ pro Tag verleiht. Also angerufen, reserviert und an einem Freitag nach der Arbeit abgeholt. Brennweite ab 10mm, das musste einfach passen. Den Rest des Abends verbrachte ich mit der Planung einer Route, die ich dann der Reihe nach abfahren würde, um so alle Rolltreppen auf meiner Liste ablichten zu können.

Escalator Studies

Kurz nach 1 Uhr nachts ging es dann los. Angekommen bei der ersten Location, „Nørreport Station“ im Zentrum von Kopenhagen, baute ich dann meine Kamera mitsamt Stativ auf und wartete, bis die Rolltreppe für wenige Sekunden frei von Menschen war. Die ersten paar Bilder waren vielversprechend. Aufgrund der relativ schlechten Beleuchtung kam ich jedoch auf Belichtungszeiten von bis zu sechs Sekunden, wenn ich die ISO-Einstellung auf Minimum belassen würde.

Ein ungewollter Nebeneffekt war, dass die sich bewegende Rolltreppe verschwamm. Ich wollte sie jedoch „einfrieren“. Ich musste also warten, bis die Rolltreppe von selbst stehenblieb, was sich als unmöglich herausstellte, da sie ständig benutzt wurde.

Eine weitere Erkenntnis war, dass 1:30 Uhr in der Nacht von Freitag zu Samstag eigentlich ein noch schlimmerer Zeitpunkt war als tagsüber. Es sind nur minimal weniger Menschen unterwegs, aber dafür sind fast alle betrunken – Kopenhagen ist eine Stadt mit ausgeprägtem Nachtleben und ihre Bewohner feiern gerne und viel.

Die nächste Stunde versuchte ich dennoch, das Bild erfolgreich auf meine Speicherkarte zu bannen, während ich mich mit betrunkenen Nachtschwärmern herumschlug. Meine Kamera mit Stativ reichte aus, um in kürzester Zeit größtes Interesse auf mich zu ziehen.

Escalator Studies

Statt meiner Rolltreppe musste ich Fotos von Menschen machen, die stolz ihre Flasche Bier in die Höhe reckten; Paaren, die sich innig küssten; jungen Frauen, die mir ihre Posing-Fähigkeiten zeigten oder Alleinunterhaltern, dir mir Dinge zeigten, die ich nicht sehen wollte. Und währenddessen standen mir immer mindestens zwei ungefragte Assistenten zur Seite, die entweder mir oder meinen „Models“ Anweisungen zuriefen oder über die Bildkomposition diskutierten.

Um viele Erfahrungen reicher, aber auch in hohem Grade frustriert, machte ich mich dann wieder auf den Weg nach Hause. Die nächsten Tage hatte ich die Nase voll von meinem Projekt und konnte mich nicht überwinden, an einer Lösung zu arbeiten. Nach einer Weile jedoch schöpfte ich neuen Mut und beschloss, es noch einmal zu versuchen, diesmal an einem Dienstag.

Meine Überlegung war, dass in der Nacht von Dienstag zu Mittwoch die wenigsten Menschen unterwegs wären, da das verlängerte Wochenende meistens montags endet und viele erst frühestens Mittwochabend mit dem Ausgehen beginnen würden.

Also hatte ich mir den Mittwoch freigenommen, das Objektiv für Dienstag reserviert und bin gegen Mitternacht losgezogen. Wieder bei meiner ersten Location angekommen, machte mein Herz einen kleinen Sprung, denn ich war allein auf der Metrostation! Die nächsten Stunden fotografierte ich sämtliche Rolltreppen an allen Locations auf meiner Liste aus allen erdenklichen Winkeln.

Escalator Studies

Das Problem mit der langen Belichtungszeit löste sich letztendlich auch, da es tatsächlich Momente gab, in denen die Rolltreppen zum Stehen kamen. Diese waren jedoch sehr selten und ich musste teilweise lange auf die nächste Gelegenheit warten. An einer der letzten Locations, dem Hauptbahnhof – Københavns Hovedbanegård, hätte ich dann wieder fast alles hingeworfen, da eine Rolltreppe partout nicht stehenbleiben wollte.

Das Hochschrauben der ISO wäre die Notlösung gewesen, ich wollte das jedoch unbedingt vermeiden, da es ja auch bei (fast) allen vorherigen Locations geklappt hat und ich einen durchgängigen Ansatz verfolgen wollte. Durch einen Zufall bin ich dann aber irgendwie mit einem Stativ-Bein auf den Nothalte-Knopf gekommen. Das Projekt war zu weit fortgeschritten, um jetzt noch Abstriche zu machen.

Es war 6 Uhr morgens, als ich dann meine Ausrüstung nach dem letzten Shooting einpackte. Der Morgen graute und ich war hundemüde, hungrig und musste auf die Toilette. Doch ich war auch erleichtert und hatte ein breites Grinsen im Gesicht. Das Gefühl, als ich nach Hause fuhr, während der Tag noch nicht ganz begonnen hatte, war unbeschreiblich und ich erinnere mich heute noch gern daran.

Die nächsten Tage verbrachte ich dann mit der Nachbearbeitung. Es war von Anfang an geplant, die Bilder in schwarzweiß zu halten, um die verschiedenen Lichtreflexe und Schatten entsprechend hervorzuheben. Alles sollte sauber und aufgeräumt aussehen. Dazu hatte ich vor Ort verschiedene Belichtungsreihen gemacht, die ich nun nutzen konnte, um sämtliche Details meiner Motive herauszuarbeiten.

Aus einer Laune heraus entschied ich mich zum Schluss dazu, den Farbton leicht in Richtung Selenium/Blau zu ändern. Nur noch schärfen und fertig. Ein paar Tage später ließ ich alle neun Fotos der fertigen Serie ausbelichten, um zu sehen, wie sie in echt wirken.

Ich habe später noch andere Fotoprojekte geplant und umgesetzt, aber „Escalator Studies“ war mein erstes und bisher herausforderndstes konzeptionelles Fotoprojekt. Das lag sicher auch an meiner mangelnden Erfahrung, aber ich habe durchgehalten und bin daran gewachsen.

Ich habe mir zwischenzeitlich ein Auto gekauft und fahre daher nur noch selten mit der Metro. Doch wenn ich sie doch mal benutze und dann eine der Rolltreppen herunterfahre, fühlt es sich fast so an, als träfe ich einen alten Bekannten. Mit einem Schmunzeln fahre ich dann meinem Ziel entgegen, während meine Gedanken zu jener langen Nacht zurückgehen.

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